Ferienprogramm
Wo die Kinder regieren: Willkommen in der Blattstadt

Auch in diesem Jahr öffnete die Spielstadt in der Kirchheimer Linde ihr Tor: Fünf Tage lang dürfen Kinder dort das Kommando übernehmen und das kleine Reich ganz nach ihren Wünschen gestalten.

Von nichts kommt nichts: Wenn die Kinder etwas wollen, müssen sie selbst Hand anlegen. Foto: Carsten Riedl

Im Garten des Mehrgenerationenhaus Linde in Kirchheim geht es geschäftig zu. Dutzende Kinder tummeln sich an diesem sonnigen Vormittag auf dem Gelände. Einige arbeiten konzentriert im Schatten der zahlreichen Zelte, andere springen aufgedreht auf dem Rasen herum.

Alle Jahre wieder verwandelt sich die Linde im Anschluss an den Pfingstmontag für fünf Tage in die Blattstadt – eine fiktive Stadt, in der sich Kinder von der ersten bis zur sechsten Klasse spielerisch an die Themen Demokratie, Partizipation und Berufsorientierung herantasten können.

Wir orientieren uns auch immer ein wenig an den aktuellen Zeitgeschehnissen. 

Tim Jans, Organisator der Blattstadt

„Das Ferienprogramm ist bei den Kids super beliebt. Unsere Anmeldung ist jedes Jahr nach 30 Minuten ausgebucht, und es kommen oft dieselben Kinder wieder“, berichtet Leiter Tim Jans, der seit mittlerweile 15 Jahren mit an Bord ist.

Ein Tag in Blattstadt beginnt morgens um 9 Uhr. Ist das Stadttor einmal geöffnet, tritt die gesamte Einwohnerschaft, bestehend aus 65 Kids und rund 20 Betreuern, zur Vollversammlung an. Anschließend geht es ruck zuck an die Arbeit.

Passend zum diesjährigen Mittelalter-Motto können die Kids unter anderem schreinern, töpfern, malen und schneidern. „Es gibt auch ein Kloster. Da haben sie gestern Seife gemacht“, erzählt der 12-jährige Ehsan. Er ist dieses Jahr bereits zum dritten Mal dabei. Die meisten Stationen sind draußen im Garten. Aber auch drinnen gibt es Ehsan zufolge ein paar Arbeitsplätze. Dort säßen zum Beispiel die Dichter und Denker. „Aber das ist langweilig. Die schreiben Zeitung und so.“

Geld regiert die Stadt

Was die Berufswahl angeht, sind die Kleinen beneidenswert flexibel. Wer möchte, kann seinen Job stündlich wechseln. Um eine neue Stelle anzutreten, muss lediglich die kleine Holzmarke mit einer Nummer, die jedes Kind zu Beginn bekommen hat, am entsprechenden Stationsschild aufhängt werden. Doch: Die Plätze sind begrenzt und mehr oder weniger begehrt. Die Regel: Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. „Naja, wenn man Glück hat, kündigen welche“, wirft Ehsan ein. Er hat seinen Traumjob schon längst gefunden und ist seit Tag Eins begeisterter Bankmitarbeiter. Neben dem Rathaus ist die Bank als Arbeitgeber besonders beliebt. „Da muss man nur sehr wenig arbeiten und kriegt trotzdem Lohn“, erklärt Ehsan.

Die Möglichkeiten, um sich kreativ auszutoben, sind vielfältig. Foto: Carsten Riedl

Die Aufgabe der Bankangestellten ist es, den fleißigen Arbeiterinnen und Arbeitern im Austausch gegen Lohnscheine ihr verdientes Geld auszuzahlen. Natürlich hat die Blattstadt eine eigene Währung: Drei Silberlinge sind gleich viel wert wie ein Goldling. Außerdem gibt es Drachentaler, die, ähnlich wie Bitcoin, im Wert steigen.

Geld ist in der Blattstadt allerdings ein brisantes Thema, das bereits für einen Umbruch in der politischen Landschaft sorgte. So wurde König Tim Jans, der die Stadt zu Beginn regierte, am zweiten Tag demokratisch seines Amtes enthoben und durch eine neue Partei ersetzt. Der Grund: zu hohe Steuern. Von den drei Silberlingen, die es unter Ex-König Tims Herrschaft als Stundenlohn gab, gingen zwei an den geldgierigen Monarchen. Bei einem Steuersatz von fast 70 Prozent und einem Netto-Stundenlohn von einem Silberling war es nur eine Frage der Zeit, bis das gemeine Volk rebellierte.

Ein Arbeitstag in der Blattstadt startet um 9 und endet um 16 Uhr – natürlich mit Pause fürs Mittagessen. Foto: Carsten Riedl

Unter der aktuellen Regierung des sogenannten Linde-Clans wurden die Steuern auf einen Silberling gesenkt. Ganz ohne Abgaben geht es laut Parteimitglied Ehsan aber nicht: „Sonst wäre zu viel Inflation.“

Langweile? Nicht in der Blattstadt

Wer sein Einkommen aufbessern möchte, kann selbstgebastelte Kunstwerke an den Markt verkaufen, wo sie von anderen Kindern (etwas teurer) erstanden werden können. Der 8-jährige Konstantin hat sein Gehalt in eine Kette mit Ankeranhänger investiert, die er stolz präsentiert.

„Hier ist richtig viel los“, berichtet die 8-jährige Livia. Auch für sie ist es das dritte Mal in der Blattstadt. Heute ist sie als Marktverkäuferin tätig, eigentlich würde sie aber auch gerne mal eine Stelle bei der Bank antreten. Wer sich den Traumjob nicht auf rechtmäßigem Weg erarbeiten will, kann es natürlich auch einfach machen wie Ehsan: „Ich habe meinen Platz bei der Bank bekommen, weil ich ein paar Silberlinge gezahlt habe“, meint er beiläufig.

Wie Tim Jans erklärt, sollen die Kinder durch die Blattstadt auch lernen, dass sie ihre Meinung sagen müssen, damit sich etwas ändert. Foto: Carsten Riedl

Möglichkeiten fürs Geldausgeben gibt es jedenfalls genug: Wer außerhalb der Mittagessenszeit Appetit auf einen Snack oder ein Kaltgetränk hat, kann sich in der Brauerei einen frischen Trunk ausschenken lassen oder in der Strandbar Obstspieße und Cocktails genießen. Für einen Schnäppchenpreis von einem Silberling gibt es fünf Minuten Spiel und Spaß in der Gauklerei. Alternativ können die Blattstadt-Bewohnerinnen und -Bewohner ihr Händchen beim Glücksspiel versuchen: Via Würfelwurf entscheidet sich, ob die zwei Silberlinge Einsatz verloren sind oder ein Preisgeld wartet.

Von selbstgemalten Bildern über Schmuck bis hin zu Mini-Katapulten: Beim Shopping auf dem Markt haben die Kinder die Qual der Wahl. Foto: Carsten Riedl

Zwischen Spiel und Realität

Wie Tim Jans berichtet, kommt das Mittelalter-Motto super an und wird im nächsten Jahr möglicherweise sogar wiederholt. „Wir orientieren uns auch immer ein wenig an den aktuellen Zeitgeschehnissen“, erklärt der Organisator.

Zu Corona-Zeiten sei die Blattstadt etwa von einer fiktiven Epidemie heimgesucht worden – die entsprechende ärztliche Versorgung war natürlich vor Ort. In einem anderen Jahr habe es mit Anspielung auf die Flüchtlingskrise ein „Mittelalter der Kulturen“ gegeben, bei dem jede Station einen anderen kulturellen und geschichtlichen Hintergrund gehabt habe. Letztes Jahr, so Jans, habe man gemeinsam mit den Kindern eine kleine Friedensdemonstration in der Kirchheimer Innenstadt organisiert. Tim Jans betont, dass man die Kinder nicht politisieren wolle. „Wir versuchen aber dennoch, ein wenig kindgerecht und ohne deutlichen Fingerzeig, auf aktuelle Themen einzugehen.“

In der Gauklerei ist unter anderem Treffsicherheit gefragt. Foto: Carsten Riedl

Bei den Kids kommt das Konzept jedenfalls spitze an. Ehsan will nächstes Jahr zum vierten – und leider letzten – Mal als Teilnehmer wiederkommen. „Dann bin ich zu alt“, bedauert der 12-Jährige. Er könne sich aber vorstellen, irgendwann als Betreuer zurückzukehren, wie es viele ehemalige Teilnehmer tun. Auch Livia zeigt sich begeistert über das diesjährige Programm. In den nächsten Pfingstferien wolle sie auf jeden Fall wieder in die Blattstadt zurückkehren.​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​​

Die Blattstadt fand im Jahr 2008 zum ersten Mal statt, und die Erfolgsgeschichte geht weiter. Foto: Carsten Riedl