Kirchheim. Büchners Woyzeck ist ein einmaliges Literaturereignis mit einer einmaligen Geschichte: Der erst 23-jährige Autor hat 1826 im Exil einen Zeitungsbericht über einen psychisch kranken Mörder aufgegriffen und einige Szenen über einen Mann aus der untersten Schicht der Gesellschaft geschrieben, der einen Mord begeht. Der Tod des Autors verhinderte eine Fertigstellung. Erst 39 Jahre später wird das Fragment gedruckt, erst 1913 uraufgeführt. Seither gilt es in Form und Inhalt als Schlüsselwerk der literarischen Moderne.
Der Fragmentcharakter des Textes gibt den Theatern bei Neuinszenierungen viel Spielraum. Nur der Handlungskern muss bleiben: Woyzeck, ein einfacher Soldat, leidet unter Armut und den Demütigungen seiner Vorgesetzten. Einziger Lichtblick ist die Liebe zu Marie, mit der er ein Kind hat und für die er sorgt, soweit es ihm möglich ist, indem er sich gegen Bezahlung für medizinische Experimente hergibt. Er leidet dadurch unter Halluzinationen. Als sich Marie mit einem Tambourmajor einlässt, ersticht er sie. Büchner zeigt, dass dem Verbrechen Woyzecks ein Verbrechen der Gesellschaft an Woyzeck vorausgeht.
Eine Vier-Mann-Band ist mit dabei
Die Badische Landesbühne greift bei ihrem „Woyzeck“ in Person ihres neuen Intendanten Wolf E. Rahlfs auf eine Musicalfassung des englischen Musicalspezialisten Robert Wilson zurück, das heißt, sie ist mit einer Vier-Mann-Band angereist. Der Intendant führt selbst Regie, doch neben ihm bestimmt noch ein Choreograf das Bühnengeschehen. Natürlich gehören zu einem Musical auch Songs und Lieder. Mit dem Konzept von Wilson hat man auch die englischen Song- und Liedtexte von Tom Waits und Kathleen Brennan übernommen. Aus Büchners Fragmenten wurde eine eigene Textfassung erstellt.
Moment mal – Büchners Woyzeck als unterhaltsames Musical? Büchners Sprache ist doch bewusst karg und realistisch, sie eröffnet Einblicke in die Seelenlage und Nöte der kleinen Leute. Doch gerade die Musik und die Songs, so ist im Programm zu lesen, sollen schockieren und Empathie fordern. Doch die Texte der Songs versteht man in der Stadthalle allein schon akustisch nicht, auch wenn man empathiefähig und -willig ist. Die musikalische Untermalung von Woyzecks Wahnvorstellungen sind hingegen nachvollziehbar. Büchners Einsprengsel von Volksliedern sind natürlich verschwunden.
Auf der Bühne herrscht dafür reges Treiben. Alle Figuren sind fast immer präsent auf ihren dunkelgrauen Plastikstühlen. Sie vereinigen sich immer wieder zum Tanzen mit beeindruckenden Choreografien. Besondere Aufmerksamkeit verdient ein kreisrundes Fenster in der Mitte des Bühnenhintergrundes, durch das wie bei einem Fernrohr Durchblicke sichtbar werden auf Woyzecks Visionen oder auf das ganze Weltall. Besonders einleuchtend sind die Durchblicke bei den erzählten Märchen: zu Beginn auf den Sternenhimmel beim tröstlichen Grimm’schen „Sterntaler“. Beim trostlosen Märchen Büchners blickt man am Schluss nach dem langsam verschwindenden Blutmond in ein schwarzes Loch.
Geschlechtertausch stößt an Grenzen
Und noch eine Überraschung bringen die Bruchsaler mit: Woyzeck wird durch eine Schauspielerin verkörpert. Diversität ist ein aktuelles Thema. Gerade auf den Theaterbühnen finden immer wieder Geschlechterwechsel statt. Wie bei der Wahl des Musicals huldigt auch in diesem Fall die Badische Landesbühne dem Zeitgeist. Die Darstellerin des Woyzeck vermag seine Leiden intensiv zu vermitteln, der Geschlechtertausch stößt aber an Grenzen, wenn es um die Vermittlung der intensiven Liebe Woyzecks zu Marie geht. Da muss ein großes rotes Luftballonherz helfen, das Woyzeck bei den Treffen seiner Marie als Liebesgabe überreicht. Und bei Woyzecks Prügelei mit dem Tambourmajor wird halt doch eine Frau misshandelt, was das Thema verschiebt.
Das überschaubare Kirchheimer Publikum ließ sich in der Stadthalle von der Spielfreude und dem Können der Truppe beeindrucken. Es gab viel zu sehen und zu hören.