Seine Leinwand ist die Realität – Straßen, Wohngebäude, historische Gebäude, Fabriken oder industrielle Konstruktionen. Eigentlich gibt es keine Orte, an denen er nicht arbeiten kann, sagt Felice Varini. „Die Leinwand funktioniert immer, nur die Menschen können manchmal schwierig sein“, sagt er und lacht. In Jeans und einem schlichten blauen Blouson steht der international renommierte Künstler eher unbeachtet vor dem Kirchheimer Kornhaus, das der Ausgangspunkt für sein aktuelles Projekt wird. „Douze points pour six droites“ heißt es – „Zwölf Punkte für sechs Geraden“.
Dabei handelt es sich um reflektierende Aluminiumbänder, die in unterschiedlicher Breite über Hauswände, Giebel, Dächer in der Max-Eyth-Straße gezogen oder geklebt werden, mit dem Rathausbalkon als höchstem Punkt. In einem Punkt werden sich die sechs Bänder treffen.
Montage mit Kletterer
Gerade hat er eine gute Nachricht bekommen: Ein Ersatzteil für den Projektor ist da. Der Umsetzung steht also nichts mehr im Wege. Mit einem Theaterprojektor werden die Linien an die Hauswände projiziert, um präzise festzulegen, wo und wie die Bänder verlaufen, erste Markierungen und Klebevorrichtungen werden angebracht, dazu werden Hubwagen eingesetzt. Dafür ist unter anderem Assistent Nicolas Patrix zuständig, der in seiner Freizeit auch als Freeclimber arbeitet und schon im Hafen von Schanghai an einer Plattform in schwindelerregender Höhe gehangen und gemalt hat. „Ich gebe Anweisungen mit dem Funkgerät“, sagt Felice Varini. Drei Wochen werden die Arbeiten dauern, bis am Samstag, 15. Oktober, dann tatsächlich der Stern – so man die richtige Betrachterposition einnimmt – über der Max-Eyth-Straße aufgeht.
Die Arbeit ist sehr komplex, denn die „Leinwand“ besteht aus zahlreichen verschiedenen Untergründen und Strukturen. Was aufgetragen wird, muss dem Untergrund entsprechend bearbeitet werden, um im Gesamtbild homogen zu wirken. Denn die Linien, egal ob aufgemalt oder geklebt, wirken in Varinis Werken immer eben und glatt, als wären sie im Nachhinein auf das Foto gezeichnet worden.
Schön anzusehen sind Varinis Werke zweifellos, das zeigt etwa das Beispiel aus dem südfranzösischen Carcassonne, wo er ebenfalls gelbe Aluminiumbänder direkt auf die Wände appliziert hat, dort allerdings gelb und in Kreisform. So ist es auch in Kirchheim: Das Ergebnis wird eine Art Stern sein, den man aber nur von einem bestimmten Standpunkt erkennt. Den müssen die Betrachter selbst herausfinden. Kommt man aber aus anderen Richtungen, erscheint die Figur wie zersprengt und in zig Fragmente zerfallen. Seine Werke sind daher mit einem Blick nie zu erfassen, sondern offenbaren je nach Standpunkt immer neue Formen und Realitäten.
Nichts ist „wirklich“
Aber was will der 70-jährige Maler und Installationskünstler damit ausdrücken? „Es gibt immer verschiedene Sichtweisen auf die Realität“, sagt er. „Hier an dieser Stelle siehst du etwas und es ist wahr. Du wechselt nur ein wenig die Position: Und es ist nicht mehr wahr“, sagt der gebürtige Schweizer. „Was ist wirklich? Nichts!“
In Deutschland hat er bislang nur im niedersächsischen Osnabrück gearbeitet. Für die „Friedensstadt“ schuf er ein Werk für den Außenraum und zwei für den Innenraum der einstigen Dominikanerkirche, die zur Kunsthalle Osnabrück gehört. „Als wir nach Kirchheim kamen, sagte mein Assistent: Wir sind ja in Osnabrück“, sagt er und lacht wieder. Der gebürtige Schweizer liebt offenbar, was er macht. Aber auch wenn es Ähnlichkeiten zwischen Kirchheim und der Stadt im Norden Deutschlands gibt: Sein Werk und dessen Wirkung werden in der Teckstadt eine ganz andere sein.
Kulturamtsleiter Dr. Frank Bauer kommt und bringt einen Schlüssel vorbei. „Damit kommen Sie in den Turm“, sagt er. Der nächste Schritt ist getan: Bald wird über der Max-Eyth-Straße für mehrere Wochen ein sternartiges Gebilde schweben – oder wie Varini es auf seine Art ausdrückt: „Was auch immer.“
Ausstellung bleibt drei Monate bestehen
Eröffnet wird die temporäre Installation „Douze points pour six droites – Zwölf Punkte für sechs Geraden“ in Kirchheims historischer Innenstadt am Samstag, 15. Oktober, um 17 Uhr. Die „Ausstellungs-Location“ an frischer Luft ist dabei die Untere Max-Eyth-Straße, der Abschnitt zwischen Kornhaus und Rathaus. Die Ausstellung wird dort bis zum 15. Januar 2023 zu sehen sein. Danach wird sie vollständig abgebaut und keine Spuren hinterlassen.
Zehn Tage wird der Aufbau der Installation dauern, in der Nacht vom heutigen Mittwoch auf den morgigen Donnerstag bleibt der Abschnitt der Max-Eyth-Straße zwischen Kornhaus und Rathaus komplett dunkel und für Fußgänger weitgehend gesperrt. Künstler und Assistenten werden bis in die frühen Morgenstunden arbeiten.
Die Anordnung der metallisch leuchtenden Bänder erfolgt nach einem ausgeklügelten perspektivischen Prinzip, das er in 40 Jahren perfektioniert hat. Der malerische Eingriff des Künstlers wird zu einem stadträumlichen Suchbild, das die Betrachter herausfordert und mit einbezieht.
Kurator ist Professor Florian van het Hekke, Email: florian.vanhethekke@gmail.com zap