Mit Spannung habe ich den Artikel zum sexuellen Missbrauch im Wächterheim erwartet. Eigentlich warte ich schon seit Jahren darauf.
Nach dem Lesen des Artikels tauchte die Frage in mir auf: Wem gilt der Vorwurf des Schweigens und Verdrängens? Seit circa 25 bis 30 Jahren erzählte ein ehemaliger Jugendlicher, immer bei persönlichen Begegnungen, er wisse etwas über das Wächterheim. Und wenn er damit zur Zeitung ginge, dann . . . Damit war das Thema beendet. Mir war klar, worum es ging.
In den 40 Jahren sind wir den Betroffenen immer wieder begegnet, aber das Thema sexueller Missbrauch tauchte nie auf. Ich fragte mich auch, mit wem haben die Betroffenen gesprochen, wer hatte ihnen nie zugehört?
Damals, als der Missbrauch innerhalb der Einrichtung aufgedeckt wurde, fragten wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter uns sehr oft: Haben wir etwas übersehen, hätten wir dies verhindern können? Wir Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeiteten in der Regel alleine in der Gruppe, vor allem nachts. Leider gab es in dieser Zeit keine Psychologen in unserer Einrichtung und die Beratungsstelle Kompass wurde erst Jahre später eingerichtet. Aus meinen weiteren Berufserfahrungen weiß ich heute, dass auch wir betroffenen Kolleginnen und Kollegen mit der Aufarbeitung überfordert gewesen wären, weil wir nicht psychologisch ausgebildet sind.
Noch eine Frage: Warum hat es 40 Jahre gedauert, den Missbrauch in der Zeitung zu veröffentlichen, um weiteren sexuellen Missbrauch zu verhindern?
Ich wundere mich noch heute, dass wir im Zuge der Veröffentlichung – vor circa 20 Jahren – über die Missbrauchsfälle in den Heimen, Kirchen, Sportvereinen nicht schon damals damit konfrontiert wurden.
Dorothea Kehrberg, Kirchheim