Leserbriefe

Niemand muss gendern

Zum Artikel „Was ist heute überhaupt noch erlaubt?“ vom 19. Januar

Neulich habe ich zu meiner Tochter gesagt: „Dein Zeh sieht aber entzündet aus, da sollte ein Arzt draufschauen. Ich rufe gleich Frau Dr. S. . . an.“ Diese Ausdrucksweise ist nicht „falsch“, sie ist auch nicht „ungenau“, sie entspricht dem natürlichen Sprachgebrauch, den ich als Muttersprachler (!) kenne. Ich habe den Begriff „Arzt“ offensichtlich generisch gebraucht, das heißt, ohne ihn auf irgendein Geschlecht zu beziehen. Fast alle Menschen sprechen in ihrem Alltag so: In einer Stadt mit 100 000 „Einwohnern“ leben nicht 100 000 Männer und in „Lehrerzimmern“ fühlen sich viele Frauen zu Hause.

Warum gendern dann so viele Leute? Ich vermute aus den folgenden Gründen: Sie haben sich einreden lassen, sie würden mit Begriffen wie „Aktivisten“ „in Wirklichkeit“ die Frauen gar nicht „mitmeinen“, (dabei wissen sie doch, wen sie gemeint haben, nämlich „Menschen“, Geschlecht egal). Oder sie tun es, weil sie fürchten, sonst angefeindet zu werden. In dem Personenkreis, in dem ich lebe, ist das der Fall. Oder sie wollen ein „Zeichen setzen“, nach dem Motto: „Wenn ich gendere, dann helfe ich einer immer noch unterdrückten Gruppe, den Frauen.“

Das letzte Argument wäre ein starkes – wenn es denn stimmen würde. Dafür gibt es aber keine Belege. Das Englische ist eine Sprache, in der es schon lange fast kein sprachliches Genus mehr gibt, im Gegensatz zum Französischen. Müsste dann nicht die Lage der Frauen in England deutlich besser sein als die in Frankreich? Das ist sie aber nicht. Das generische Maskulinum hat sich in den letzten Jahrzehnten auch nicht der Emanzipation in den Weg gestellt: Frauen wurden zum Studium zugelassen, obwohl weiterhin von „Studenten“ die Rede war, Frauen durften wählen, auch wenn sie in „Wählerlisten“ verzeichnet waren und so weiter.

Was folgt daraus? Niemand muss gendern, um Frauen einzubeziehen oder die Emanzipation der Frau voranzubringen. Da gibt es ganz andere Dinge zu tun.

Nicola Becker-Waßner, Bissingen