Brechend volle Parkplätze und Menschentrauben, die zur Pforte strömen. Wer am Samstag auf Höhe der ehemaligen Papierfabrik Scheufelen unterwegs war, hatte den Eindruck, die Zeit sei zurückgedreht. Doch statt im „blauen Anton“ kamen die Besucher in bunter Alltagskleidung. In den Fabrikhallen, in denen an den lärmenden Papiermaschinen einst bei Gluthitze gearbeitet wurde, herrscht heute gespenstische Stille zwischen kaltem Beton. Seit Jahren ist die ungewisse Zukunft des 22 Hektar großen Areals das Gesprächsthema in der Gemeinde. Am Samstag war nun jeder eingeladen, sich ein Bild davon zu machen, was sich hinter den gewaltigen Mauern verbirgt. Die neue Eigentümerin des Quartiers, die Land Development (DLE) mit Sitz in Berlin, hatte die Fabriktore geöffnet. „Wir wollen den neuen Nachbarn vorstellen und zeigen, worum es geht“, sagte Fabian Böttger, Senior-Manager von Hendricks & Schwartz, ein auf strategische Beratung spezialisiertes Unternehmen.
Ganz so viele Menschen wie zur Blütezeit der Papierfabrik Scheufelen, als dort 2400 Leute arbeiteten, kamen zwar nicht. Doch für eine Schicht im Betrieb hätten die Besucherinnen und Besucher locker gereicht. Eine genaue Zahl lag am Ende nicht vor, doch dürften es weit mehr als die angemeldeten 700 gewesen sein. „Wir sind positiv überrascht, dass so viele gekommen sind“, sagte der Leiter der Projektentwicklung, Jan-Steffen Iser. Im Viertelstundentakt wurden die Interessenten meist von ehemaligen Mitarbeitern über das Gelände geführt. Einer von ihnen war Bernd Weil, der mehr als drei Jahrzehnte als Schlosser in der Papierfabrik tätig war und noch heute als Servicetechniker auf dem Gelände nach dem Rechten guckt. Vom Kesselhaus, in dem einst Wärme und Strom erzeugt wurden, lotste er eine Gruppe durch die ausgebeinten Hallen. Während auf der Papiermaschine VI früher mit Hochgeschwindigkeit Papiere für Broschüren und Zeitungen produziert worden seien, wurden auf der PM V schwerere und teurere Papiere hergestellt. Beide Maschinen stehen inzwischen in Indien. Nachdem im vergangenen Jahr die Produktion von Silphie-Papier ebenfalls eingestellt worden war, wurde nun auch die letzte größere Maschine abgebaut. An die Ära der PM II, der "alten Dame" von 1903, erinnern neben einem gähnenden Loch im Boden noch säckeweise Graspellets, die vor dem Papiersaal einen würzigen Geruch verströmen.
Beinahe eine Stunde dauerten die Rundgänge, die sich bis hinunter zur inzwischen stillgelegten fabrikeigenen Kläranlage zogen. Überwältigt waren viele von den Dimensionen des Areals: „Riesig, einfach nur riesig“, sagte eine Besucherin kopfschüttelnd. „Ich habe völlig die Orientierung verloren und gar nicht mehr gedacht, dass ich noch in Oberlenningen bin“, meinte die 21-jährige Sonja Gosch, die im Ort aufgewachsen ist. Andere nutzten den Tag der offenen Tür, um ihre frühere Arbeitsstätte noch einmal aufzusuchen. Antonella Russo, die 27 Jahre im Vertriebsinnendienst der Papierfabrik gearbeitet hatte, fiel es schwer, herzukommen. „Ich habe das Familiäre hier sehr geschätzt“, sagte sie. Die Aussicht, Kolleginnen und Kollegen aus "PSO"-Zeiten zu treffen, hatte den Ausschlag gegeben, sich doch auf den Weg zu machen. Belohnt wurde ihr Mut letztlich mit einem großen Hallo unter „Scheufelanern“.
Zu sehen gab es nicht nur dem Verfall anheimgestellte Fabrikhallen, sondern auch Zukunftsweisendes: Im „Packaging Hub“ von "PeZero" in der ehemaligen Schreinerei ließ sich verfolgen, wie mit Hilfe eines Digitaldruckers und eines Plotters Verpackungen entstehen. Produziert wurde nicht irgendeine Verpackung, sondern ein kleiner Karton aus Graspapier, den Lenninger Werkrealschüler im Rahmen eines Projekts im Sommer für leckeres „Apfelgsälz“ kreiert hatten. In anderen Werkstätten, wo einst Elektriker, Schlosser oder Flaschner gearbeitet hatten, haben sich inzwischen Firmen oder Forschungsstätten etabliert, die sich Nachhaltigkeit und Ökologie auf die Fahnen schreiben. Es sind derlei innovative Mieter, die ins Konzept der DLE passen könnten. „In dem Quartier soll es einen Mix aus Gewerbe, Wohnen und Freizeitangeboten geben“, erklärte Jan-Steffen Iser. Vorstellbar seien etwa auch ergänzende Nutzungen wie kleine Ausstellungsräume oder ein Museum zur Firmengeschichte, meinte der Projektleiter Markus Kühne. Nicht nur er geht davon aus, dass sich die konkrete Planung für das Scheufelenquartier über Jahre hinziehen wird. Das erfordern allein aufwendige Abstimmungen mit Behörden zu Themen wie Infrastruktur und Verkehr.
Der Tag wurde genutzt, um „die Bevölkerung abzuholen“ und deren Ideen abzufragen. Am Spätnachmittag berichtete Jan-Steffen Iser von einer positiven Stimmung. „Die Leute sind froh, dass eine Entwicklung in Gang kommt“, so sein Eindruck. Geplant sei, die Bevölkerung im weiteren Verfahren über den jeweiligen Stand zu informieren. Wie Fabian Böttger erklärte, wird es von den Themen abhängen, ob der Gemeinderat oder die Bürgerinnen und Bürger Ansprechpartner sind.
Weitere Infos gibt es unter www.scheufelen-quartier.de
So könnte die Zukunft des Quartiers aussehen
Zahlreiche Ideen brachten die Besucherinnen und Besucher am Tag der offenen Tür zu Papier. Generationenwohnen, Arbeitsplätze, Forschung an Zukunftstechnologien, preiswertes Bauen und Wohnen lauteten einige der Stichworte. Auch an Freizeitgestaltung wird vielfach gedacht: Zu den Ideen gehören gastronomische Angebote, eine Kletterhalle beispielsweise im Kesselhaus, ein Fitnessstudio, eine Kreativwerkstatt, ein Club, eine Konzerthalle, eine Kartbahn, ein Indoor-Spielplatz und andere Angebote für Kinder.
Den denkmalgeschützten Gebäuden galt besonderes Interesse. Unter Denkmalschutz stehen außer dem Verwaltungsgebäude das Gebäude an der Bundesstraße, in dem die alte Papiermaschine untergebracht war, das Kesselhaus, die Pforte, das Gebäude mit Werkswohnungen sowie der Komplex aus Werkstatt, Kantine und Verwaltung. „Was dabei jeweils genau unter Denkmalschutz steht, muss man sehen“, sagt DLE-Projektleiter Markus Kühne. Gedacht sei auch an eine Renaturierung der Lauter.
Potenzial sieht die DLE im Scheufelenquartier aufgrund seiner idyllischen Lage im Biosphärengebiet Schwäbische Alb, genauso aber wegen der Lage in der Metropolregion Stuttgart. Eine Chance sei die Verbindung von Ober- und Unterlennngen. Geschaffen werden könnten gemäß der DLE Arbeitsplätze, neuer Wohnraum sowie eine soziale Infrastruktur und Freizeitangebote. Bundesweit betreut das Unternehmen, das sich darauf spezialisiert hat, in Gebieten Baureife herzustellen, derzeit 60 Projekte. ank