Lesetipps
Per Roboter in der Schule

Pilotprojekt In der Freihof-Realschule drückt jetzt ein Avatar die Schulbank. Er ermöglicht es einer länger­fristig erkrankten Schülerin, von zu Hause aus am Unterricht teilzunehmen. Von Bianca Lütz-Holoch

Vorne im Klassenzimmer, direkt beim Lehrerpult, sitzen Paula, Leonora – und ein Roboter. „Das ist Carla“, erklären die zwei Schülerinnen und deuten auf das weiße Gerät, das nur aus Kopf und Bauch zu bestehen scheint und mit bunten Stickern beklebt ist. Es dreht langsam Kopf und Körper zur Klasse, blinzelt mit den Augen und sagt mit der Stimme einer Jugendlichen: „Hallo“.

Die Stimme gehört der 15-jährigen Carla. Eigentlich besucht sie zusammen mit Paula, Leonora und 25 anderen Schülerinnen und Schülern die neunte Klasse
 

Carla ist präsent – auch wenn sie nicht da ist.
Marlon Lamour
Der Leiter der Freihof-Realschule über den immensen Mehrwert des Avatars 

der Kirchheimer Freihof-Realschule. Zurzeit kann sie das aber nicht. Nach einer Wirbelsäulen-Operation muss sie sich tagsüber regelmäßig hinlegen. Ein Roboter – oder genauer gesagt ein Avatar – macht es möglich, dass sie trotzdem am Unterricht teilnimmt. „AV 1“ heißt das 30 Zentimeter große, etwa eineinhalb Kilo schwere Gerät offiziell. Es ist eine neue Errungenschaft des Kreismedienzentrums Esslingen und wird jetzt im Rahmen eines Pilotprojekts in Kooperation mit der Freihof-Realschule erprobt. „Wir sind durch eine Kollegin aus Bayern auf den Avatar aufmerksam geworden und waren gleich begeistert von der Technologie“, sagt Jochen Keil, Leiter des Kreismedienzentrums. 

Denn Carla ist längst nicht die einzige Schülerin, die unverschuldet lange Fehlzeiten in der Schule hat. „Es gibt einen riesigen Bedarf“, so Keil. Operationen oder eine Krebserkrankung, Kuraufenthalte, psychische Erkrankungen oder Todesfälle in der Familie sind mögliche Gründe, warum Schülerinnen und Schüler mehrere Wochen oder Monate nicht persönlich zur Schule kommen können. Telepräsenz-Technologie, so der Fachausdruck, ermöglicht trotzdem Teilhabe – am Unterrichtsstoff, aber auch, was das soziale Schulleben angeht.

Spezielle Codes vereinbart

„Carla ist in der Klasse präsent – auch wenn sie nicht da ist“, bringt es Marlon Lamour, Leiter der Freihof-Realschule, auf den Punkt. Jeden Morgen holen Carlas Klassenkameradinnen Paula und Leonora den Avatar im Sekretariat ab und liefern ihn nach Schulschluss wieder ab, damit er über Nacht geladen werden kann. Hat die Klasse Physik oder Chemie, kommt das Gerät mit in die Fachräume. Auch an Gruppenarbeiten oder Referatsvorbereitungen kann Carla teilnehmen – wenn sie möchte und sich gut genug fühlt. Falls nicht, klinkt sie sich aus. „Wenn Carla nicht ansprechbar ist, leuchtet ihr Kopf blau“, erklären Paula und Leonora. Dass da eine Stimme aus dem Roboterbauch kommt und sich das Gerät selbstständig bewegt – „das war am Anfang schon ein bisschen spooky“, geben sie zu. Mittlerweile gehört der Avatar für die Klasse aber zum Schulalltag.

Zu Hause, nicht weit von der Schule entfernt, liegt Carla mit ihrem Tablet im Bett. Über das Mobilgerät steuert sie den Avatar im Klassenzimmer. Sie kann zur Tafel schauen und ihrer Lehrerin zuhören. Wenn sie etwas sagen möchte, lässt sie ihren Kopf blinken.

Für die 15-Jährige aus Kirchheim ist das eine riesige Chance. „Ich möchte das Schuljahr trotz meiner OP schaffen“, sagt sie. Wie schwer es ist, bei langen Fehlzeiten überhaupt noch in der Schule mitzukommen, weiß sie nur zu gut. Carla hat eine angeborene Grunderkrankung, wegen der sie oft wochenlang zu Hause bleiben musste, und die sie nach der OP wieder verstärkt einschränkt. 

„So ein Gerät hat uns in den vergangenen neun Jahren gefehlt“, sagt Carlas Mutter. „Das ist wirklich ein Segen für uns.“ Von dem Projekt waren sie und ihre Tochter von Anfang an begeistert. Gezögert hat Carla trotzdem kurz. „Ich wollte erst nicht, dass mich ein Roboter verkörpert“, sagt sie. „Lieber wäre es mir gewesen, da hätte einfach eine Kamera gestanden.“ Aus zwei Gründen hat sie sich doch dafür entschieden. „Ich mache das natürlich für mich. Aber ich wollte den Avatar auch für andere Kinder ausprobieren, die krank sind und nicht zur Schule gehen können.“

Die Technik ist das eine. Dass sich Carla und ihre Mutter so entlastet fühlen, liegt aber auch noch an etwas anderem: „Die Schule hat es uns wirklich leicht gemacht“, sagt Carlas Mutter. „Wir erfahren viel Wohlwollen und Entgegenkommen.“ Ein Beispiel: Carla kann jeden Tag spontan selbst entscheiden, ob sie für ein oder zwei Stunden in die Schule kommt oder per Avatar am Unterricht teilnimmt. „Man weiß ja vorher nie: Geht es ihr gut oder nicht?“ Ein anderes Beispiel: Die Schule kümmert sich um die komplette Technik – von der Installation des Geräts bis zur nicht immer stabilen Internetverbindung.

Einverständnis ist Pflicht

Ganz besonders freuen sich Carla und ihre Mutter aber über die Unterstützung der Klasse. Denn dass die mitspielt, war Grundvoraussetzung. „Weil der Avatar mit einer Kamera ausgestattet ist, mussten aus Datenschutzgründen Schülerinen und Schüler und deren Eltern ihr schriftliches Einverständnis geben“, sagt Marlon Lamour. Allein daran hätte das komplette Projekt scheitern können – ist es aber nicht. „Da gab es überhaupt gar keine Frage, alle haben sofort unterschrieben“, so der Schulleiter. Im Kollegium war die Reaktion ähnlich. „Da hieß es nur: Wow, wir sind dabei.“ 

Marlon Lamour und Jochen Keil betrachten den Avatar als gutes Beispiel dafür, wie Digitalisierung an Schulen gelingen kann. Nächstes Jahr die Mittlere Reife schaffen – dank des Avatars ist das für Carla möglich. „Es ist toll, dass es die Technik gibt“, sagt sie. Trotzdem freut sie sich darauf, den AV 1 wieder zurückgeben zu können: „Ich bin froh, wenn ich wieder regelmäßig selbst in die Schule gehen kann.“

 

Die Schulen im Landkreis können das Gerät ausleihen

Das Kreismedienzentrum Esslingen hat mit Mitteln des Landkreises hat zwei Avatare angeschafft und verleiht sie kostenlos an Schulen, die Bedarf haben. Die Freihof-Realschule ist die erste, die den Avatar testet. In Esslingen startet nach den Ferien ein Projekt mit dem zweiten Gerät.

Die Telepräsenz-Avatare, die im Kreis eingesetzt werden, sind von dem norwegischen Unternehmen „No Isolation“ entwickelt worden. Neben dem Hauptsitz in Oslo hat die Firma auch Büros in München und London. Ihre Geräte erfüllen alle Vorgaben der Datenschutz-Grundverordnung.

Die Technologie umfasst verschiedene Hardware- und Software-Komponenten. Neben dem Gerät selbst gibt es eine App für Schülerinnen und Schüler und eine App für die Systemadministratoren. Falls kein WLAN zur Verfügung steht, kann eine SIM-Karte verwendet werden.  bil