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Verkehrswende: „Das 9-Euro-Ticket ist nur ein nettes Bonbon“

Mobilität Für das Kirchheimer Netzwerk „Anders Mobil“ hat Verkehrsexperte Dr. Winfried Wolf zur Zukunft der Bahn nach dem 9-Euro-Ticket referiert. Von Thomas Zapp

Die gute Nachricht zuerst: Bei rund 50 Millionen verkauften 9-Euro-Tickets kann man von 19 Millionen Menschen ausgehen, die erstmals am ÖPNV teilgenommen haben. Dennoch hat Winfried Wolf eine klare Meinung: „Ein nettes Bonbon, aber es machte ökologisch wenig Sinn.“ Denn die übervollen Züge hätten zu einer hohen Belastung der Belegschaft geführt, Pendler wurden vergrault und vor allem habe es „kaum Verlagerung“ des Verkehrs gegeben, sondern 45 Prozent „zusätzliche Verkehre“. 

Es brauche ein anderes Gesamtmodell, sagt Wolf, der von 1994 bis 2002 für die PDS im Bundestag saß und dort unter anderem verkehrspolitischer Sprecher der Fraktion war. Der 73-Jährige ist heute
 

Wir haben damit nur eine Erwartungshaltung geschaffen.
Winfried Wolf
ist gegen Dumpingpreise für Tickets

 

Sprecher der Initiative „Bürgerbahn statt Börsenbahn“ sowie Sprecher des Bündnisses Bahn für Alle. Dazu hat er zwölf Thesen zu seinem Vortrag unter dem Motto „Anders Mobil“ zum Auftakt der „Mobilitätstage 2022“ in die Linde nach Kirchheim gebracht.  Es wird schnell deutlich: Wolf hält nichts von großen Projekten á la Stuttgart 21 sondern fordert, bestehende Infrastrukturen zu nutzen und auszubauen. Bislang sei genau das Gegenteil passiert: So seien aus 44000 Bahnkilometern im Jahr 1994 bis heute 34000 Kilometer geworden und die Zahl der Weichen habe sich halbiert, dadurch könne das Bahnnetz weniger effektiv genutzt werden.

Auch die fehlende Elektrifizierung in vielen Teilen führt er an. Häufig fällt das Wort „Klimabahn“ als wichtiger Teil einer klimafreundlichen Verkehrswende. Und dafür sei, so seine dritte These, elementar: Ein engmaschiger, durchgehender Fahrplan, der alle Strecken berücksichtigt. „Ein Hochgeschwindigkeitszug von Hannover nach Berlin führt momentan dazu, dass Magdeburg und Potsdam abgehängt werden“, sagt der gebürtige Schwabe aus Horb, der heute in Potsdam lebt. Die Abschaffung des Interregio im Jahr 2001 bedauert er dagegen sehr, dessen Netzabdeckung sei sehr gut gewesen.

Eine andere zentrale These Wolfs lautet: Das Ticketing muss transparenter werden und die Zugbindung gehört abgeschafft. „Ticket kaufen, losfahren, egal mit welchem Zug“ – das müsse möglich sein. In der Schweiz sei das möglich, und früher habe es das in Deutschland auch gegeben – heute koste es einen Aufpreis. 

Der erfahrene Verkehrsexperte betet aber keinesfalls alle Formeln vieler Verkehrswendepolitiker nach: Alle Güter auf die Schiene zu bringen hält er zum Beispiel für ausgeschlossen. Von 800 Milliarden Tonnenkilometer in Deutschland, die jährlich für die Beförderung von Gütern auf der Straße anfallen, entfallen derzeit nur 120 Milliarden auf die Schiene. Schon mit dem Doppelten wäre die Bahn überfordert. Der ehemalige PDS-Politiker sieht den Fehler im System: „Die regionalen Kreisläufe sind zerstört worden, manches Produkt reist heute vier Mal um die Welt, bevor es im Regal steht. Da müssten die realen Transportkosten eingepreist werden, dann ginge der Güterverkehr zurück.“ 

Am Ende kommt Winfried Wolf wieder auf die Ausgangsfrage: Was soll nach dem 9-Euro-Ticket kommen? Ein Bahnticket müsse nicht spottbillig sein, ist seine Schlussfolgerung, wenn die vorherigen Punkte berücksichtigt werden. Ein Klimaticket wie in Österreich für drei Euro am Tag, mit dem alle Fern- und Nahverkehre – die Stadtverkehre eingeschlossen – abgedeckt sind, hält der Bahncard-100-Besitzer für zielführend. Oder das 365-Euro-Ticket in Wien. „Dort ist der Autoverkehr in der Stadt zurückgegangen.“

Wo Deutsche Bahn draufsteht, müsse auch Deutsche Bahn drin sein, schließt er: Er selbst konnte am Potsdamer Hauptbahnhof keine Bahncard 100 erwerben. Die Mitarbeiterin am Schalter hatte keinen Zugriff auf den Bahncomputer, denn die DB ist dort nicht mehr am Bahnhof präsent. Und nicht nur das: Mit 4144 Euro ist sie 25 Prozent teurer las das vergleichbare „General-Abo“ in der Schweiz. „Das haben dort 400 000 Leute, die Bahncard 100 lediglich 38 000“, sagt Wolf. Der Markt sei zweifellos da, wenn das Angebot stimme, ist er überzeugt. Doch die Politik verhindere das.