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Wenn die S-Bahn die Idylle durchkreuzt

Verkehr In einer Studie positiv bewertet, von Politikern und Planern bejubelt: Die Reaktivierung der Bahnstrecke Kirchheim-Weilheim trifft bei Anliegern allerdings auf wenig Begeisterung. Ein Besuch in Jesingen. Von Thomas Zapp

Der Blumenhügel würde wahrscheinlich als Hingucker auf einer Landesgartenschau zur Ehre gereichen, zumal Pflanzen und Dekoration alle Nachhaltigkeitsaspekte erfüllen. „Die sind alle vom Kompost auf dem Friedhof“, sagt Horst Wiegand. Und die Dekoraktion vom Blumentopf bis zur alten Wasserzapfsäule stammen vom Sperrmüll. Abrutschen kann das Erdreich nicht, denn zusammengehalten wird die blühende Pracht von soliden Eisenbahnschienen. 

Denn der Rentner hat seinen kleinen „externen“ Vorgarten im Kirchheimer Ortsteil Jesingen mitten auf der Trasse der ehemaligen Bahnstrecke Kirchheim-Weilheim errichtet, zur Freude von Spaziergängerinnen und Fahrradfahrern. Mitte der 90er Jahre hatte er damit angefangen, nachdem 1986 der letzte Zug über die Schienen gefahren war, mit der Zeit ist ein begehbares kleines Paradies daraus geworden. „Jeder, der vorbeikommt, bleibt stehen“, erzählt er stolz. 

 

Der Bahnhof in Weilheim ist ja weg, bauen die dann einen neuen?
Horst Wiegand, Anwohner

 

Dass es mit dieser Pracht vorbei sein könnte, wenn die Bahnstrecke wiederbelebt würde, ist Horst und seiner Frau Heidi Wiegand klar. Doch nicht nur deswegen stehen sie einer Verlängerung der S1 bis Weilheim, die laut einer neuen Studie gute Chancen auf Verwirklichung hat, skeptisch gegenüber. „Der Bahnhof in Weilheim ist ja weg, bauen die dann einen neuen? Und die Autobahnbrücke ist auch weg“, sagt er. Wenn dann ein neuer Bahnsteig außerhalb liege, etwa auf Höhe Rosenloh, dann wäre der Bahnhof zu weit. „Wenn die dann erst mit dem Bus fahren müssen, können sie auch gleich bis Kirchheim fahren“, meint der Hobbygärtner. Dann gebe es noch den Kinderspielplatz in der Bohnau, der dann wieder abgerissen werden müsste. Zustimmung zu dem Projekt würde sicher anders klingen.

Die Bahn an sich hat das Ehepaar aber nie gestört, vielmehr gehörte sie zum Alltag. „Wenn Sie um sechs Uhr Richtung Weilheim fuhr, fuhr sie vorsichtig und hupte sie nicht. Wenn Sie um sieben zurück Richtung Kirchheim vor, gab es zwei Mal ein Pfeifen. Dann wusste man, dass man aufstehen muss“, erinnert sich Heidi Wiegand lachend. Damals konnte man offenbar die Uhr nach der Bahn stellen. Das Fahrgeräusch sei aber wegen des niedrigen Tempos kein Problem gewesen.

Sie haben mit ihrem "Gleisbeet" den absoluten Hingucker auf der Bahnstrecke in Jesingen geschaffen: Horst und Heidi Wiegand. Foto: Tobias Tropper

Ebenfalls in ihrem Garten, allerdings in gut zwei Metern Entfernung zu den stillgelegten Gleisen, steht bei strahlendem Sonnenschein auch Ingrid Bihon. „Die Kinder haben sich immer erschrocken, wenn das Warnsignal ertönte“, sagt sie. Nur wenige hundert Meter weiter Richtung Kirchheimer Innenstadt gab es nämlich einen unbeschrankten Bahnübergang. Etwas weiter folgte dann der Bahnhof, der heute ein schickes Wohnhaus ist.

Im Jahr 1969 ist sie mit ihren Eltern nach Jesingen gezogen und nach deren Tod mit ihrer eigenen Familie im Haus geblieben. „Die Lage ist ein Sechser im  Lotto“, sagt sie und blickt über die Schienen auf viel Grün. Die Zweige des Apfelbaums in ihrem Garten ragen über die ehemalige Bahntrasse, die müssten wohl weichen. Grundsätzlich sieht sie die Bahn positiv: Die Menschen vor Ort sollten eine gute Verbindung haben, sagt sie. „Aber ob ich dafür bin, das weiß ich nicht“, fügt sie hinzu. 

Zwei Nachbarinnen, die ihren Namen nicht nennen möchten, verweisen auf die gute Busverbindung nach Kirchheim. „Man kommt alle halbe Stunde gut nach Kirchheim und kann dort in die Bahn steigen. Für eine Reaktivierung der Bahn müsse man wieder viele Bahnschienen neu verlegen. Auch das klingt eher nach „nein“.

Ingrid Bihon lebt seit 1969 in unmittelbarer Nähe zu den Bahngleisen, ihre Apfelbäume breiten sich über die Strecke aus. Foto: Tobias Tropper

Eine Häuserreihe zwischen seinem Haus und der Bahnstrecke hat der Jesinger Patrick Schöttle. Er äußert sich am deutlichsten gegen die Bahnlinie. „Diese permanente Lärmbelastung sehe ich als nachteilig und gesundheitsschädlich an. Ich selbst arbeite bei der Bahn, mein Arbeitsplatz ist der Zug, daher kenne ich die Geräusche zu Genüge, die zum Beispiel eine S-Bahn im Fahrbetrieb schon alleine durch die Radsätze und Fahrmotoren so erzeugt“, antwortet er dem Teckboten per E-Mail. Er selbst habe 20 Jahre direkt an Bahngleisen gewohnt, in etwa zehn Metern Entfernung. „Man gewöhnt sich zwar oberflächlich an den Lärm, aber im Unterbewusstsein nimmt man diesen trotzdem wahr. Die letzten zehn Jahre haben meine Frau und ich immer sehr ruhig gewohnt und tun dies auch jetzt. Man merkt das definitiv, dass man besser schläft und auch tagsüber, wenn man zu Hause ist, deutlich entspannter ist.“ Da er auch nicht glaube, dass eine Reaktivierung der Strecke hohe Fahrgastzahlen bringen würde, sieht er keine Verbesserung. „Für uns überwiegen die Nachteile deutlich.“

Entspannter sieht das Horst Wiegand, der von langen Planungszeiten ausgeht. „In fünf Jahren bin ich über 80, dann werde ich wohl die Inbetriebnahme nicht mehr erleben.“