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Gemeinden in Not: Die „Orte der Wahrheit“ rufen um Hilfe

Appell In den Rathäusern des Kreises herrscht Krisenstimmung: Kinderbetreuung, zunehmende Bürokratisierung,  Fachkräfte­mangel und mehr Geflüchtete. Geld allein ist nicht die Lösung, sagen die Bürgermeister. Von Thomas Zapp

Was im fernen Berlin beschlossen wird, um die multiplen Krisen und strukturellen Herausforderungen der Gegenwart zu bewältigen – oder wie es der Bundeskanzler nennt: die Zeitenwende –, fällt derzeit verstärkt den Städten und Gemeinden auf die Füße. Nach der Corona-Krise kommt nun die Aufnahme von Geflüchteten aus der Ukraine als Herausforderung hinzu. „Das sind aber Krisen, die man immer wieder bewältigen muss, und darüber beklagt sich auch niemand“, betont Lenningens Bürgermeis­ter Michael Schlecht. Schwerwiegender sei, dass die Krisen wie ein Brennglas langfristige Probleme in den Gemeinden aufdecken: Überbürokratisierung, Vorschriftenflut und mangelnde Kommunikation mit den Landes- und Bundesverwaltungen. „Es hat eine Entkoppelung stattgefunden“, konstatiert Wendlingens Bürgermeister Steffen Weigel, der mit seinen Amtskollegen Schlecht sowie Matthias Bäcker aus Neuffen und Frank Buß aus Plochingen zu einer Pressekonferenz geladen hat.

Anlass ist das Positionspapier des Gemeindetages Baden-Württemberg, an dem die vier Schultes aus dem Kreis mitgearbeitet haben und das mehr einem Hilferuf ähnelt:
 

Das Staatswesen wird von den Gemeinden getragen.
Steffen Weigel
Wendlingens Bürgermeister wünscht sich mit Bund und Ländern mehr Kommunikation auf Augenhöhe.
 

Die Grenze der Leistungsfähigkeit in den Gemeinden ist erreicht. Flankiert wird es derzeit noch durch einen offenen Brief der kommunalen Spitzenverbände. „Wir jammern nicht“, betont Michael Schlecht. Man wolle nur verhindern, dass die kommunale Daseinsvorsorge nicht mehr geleistet werden könne. „Bund und Länder machen Versprechungen, Städte und Gemeinde müssen sie gewährleisten“, sagt der Lenninger Bürgermeister. 

Das fängt an bei den Beschlüssen zum Klimaschutz, die von Gemeinden finanziert und umgesetzt werden müssen, und reicht bis zum Rechtsanspruch auf Kinderbetreuung auch in der Grundschule ab 2026. Bei Letzterem scheitert es nicht nur an Räumlichkeiten, sondern auch am Personal, zumal Baden-Württemberg einen der höchsten Betreuungsschlüssel für Kindertagesstätten in Deutschland hat. „Wir tun doch so schon alles, um die Wünsche der Bürgerinnen und Bürger zu erfüllen, warum braucht es einen Rechtsanspruch?“, fragt Michael Schlecht. 

Als Arbeitsplatz nicht attraktiv

All das ist gepaart mit dem allgegenwärtigen Arbeitskräftemangel, der Gemeinden mit den Gehältern gegenüber der freien Wirtschaft schlechter stellt, vor allem wenn es um technische Berufe geht. Und diejenigen, die in den Rathäusern arbeiten, seien zunehmend überlastet. Ein anderes Beispiel sei die Digitalisierung in den Schulen: Laptops für Lehrer müssen künftig die Schulen übernehmen, also die Städte und Gemeinden als Schulträger. „Der Staat leiste häufig nur die Anschubfinanzierung. „Die Bazooka verstummt aber, wenn es um die Folgeausstattung geht“, sagt Michael Schlecht.   

Bund und Länder würden oft die Realität vor Ort nicht wahrnehmen, aber genau da müsse man wieder hinkommen, meinen die Bürgermeister unisono. „Städte und Gemeinden sind die Orte der Wahrheit, weil sie die Orte der Wirklichkeit sind“, zitiert der Lenninger Schultes einen Satz aus dem Positionspapier. Ob ein Staat als leistungsfähig wahrgenommen wird, entscheide sich in den Gemeinden vor Ort. 

Was also muss geschehen? Mehr interkommunale Zusammenarbeit etwa. Der Neuffener Schultes Matthias Bäcker hat mit vier Nachbargemeinden ein einheitliches Standesamt geschaffen und die IT und EDV-Betreuung zusammengelegt. „Das läuft sehr gut in den Gemeinden“, sagt er. Weniger Bürokratie fordert Plochingens Bürgermeister Frank Buß. „Das ist wie bei einer Hydra: Wenn ein Gesetz abgebaut wird, kommen sieben Rechtsverordnungen dazu. Förderprogramme sind so detailliert vorgegeben, dass der Aufwand in keinem Verhältnis zum Ertrag steht“, sagt der langjährigste Gemeindechef der Runde.

Im Positionspapier geht es um Grundsätzliches: Jede staatliche Leistung, Zusage oder gesetzliche Vorgabe müsse künftig vorab auf ihre Umsetzbarkeit und Finanzierbarkeit geprüft werden. Neue Aufgaben, die Ausweitung bestehender Aufgaben dürften nicht ohne die „Machbarkeitszusage“ der kommunalen Ebene erfolgen. „Wir wollen ein gleichwertiger Partner für Land und Bund sein. Themen setzen, ein paar Euro hinterherwerfen und dann ,Mach mal‘ sagen, reicht nicht“, sagt der Plochinger Bürgermeister. Es gehe darum zu schauen, was die Gemeinden über das Geld hinaus brauchen, um Aufgaben zu bewältigen. Die Schultes wünschen sich einen regelmäßigen, ernsthaften Austausch mit Land und Bund. „Wir wollen die Augenhöhe wiederherstellen“, sagt Michael Schlecht. Es gehe um die Zukunft der kommunalen Selbstverwaltung und die Möglichkeit, auch selbst etwas zu gestalten, nicht nur die Pflicht abzuarbeiten. „Das macht doch das Leben vor Ort aus.“