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Interrail: Alles wie früher – und doch ganz anders?

Wandel Das Interrail-Ticket ist 50 geworden: Zwei Generationen berichten von ihren ganz persönlichen Erfahrungen.

Redakteur Gerd Esslinger machte sich 1976 als unerfahrener Bua mit dem Interrail-Ticket auf nach Frankreich:

Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen – hieß es für mich, als ich als Landpomeranze in den Schulferien die große, weite Welt per Interrail-Ticket erobern wollte. Konkret bedeutete dies, erst drei Wochen Briefe austragen, um die Ticketkosten stemmen zu können. Schließlich waren meine Eltern gar nicht begeistert, dass der unerfahrene „Bua“ auf Achse gehen wollte. Dann: Rucksack gepackt, Ticket am Schalter am Bahnhof in Plochingen abgeholt (da gab es noch einen) und los ging’s, mit dem ersten und einzigen fixen Ziel: Paris – Claudette, une Cigarette, O la la.
Und wirklich, die Stadt hatte es in sich, das Flair im Quartier Latin, die Musikkneipen, da konnte der Louvre nicht locken, und der „Bua“ war platt. Auch weil diese Stadt sündhaft ist – sündhaft teuer. Die im Vorfeld getätigte Anschaffung eines Jugendherbergs-ausweises stellte sich als Fehlinvestition heraus, weil die waren völlig überfüllt, nicht nur die in Paris. Also kurzerhand Baguette, Käse, Wein gekauft und die brettharte Iso-Matte ausgepackt, um am Seine-Ufer zu nächtigen – bis die Flics kamen, um mich wegzukomplimentieren.
Also doch zu einem der Bahnhöfe, wie der Tipp alter Interrail-Hasen lautete, denn dort würden Wartende geduldet, auch in der Waagerechten. Übrigens waren Bahnhofsbänke neben diversen Stränden in den drei Wochen der hauptsächliche Platz, um zu nächtigen.
Von jetzt an regierte das Prinzip Zufall, je nachdem, was attraktiv auf den ratternden Anzeigetafeln erschien, denn: Internet und Smartphones gab es noch nicht, und ein Kursbuch wäre teuer und schwer gewesen. Also immer der Nase nach, von einer Lehrstunde zur anderen.
Ich lernte die Vorzüge (und Nachteile) des Nacktbadens am Atlantik kennen, wie eine Auster schmeckt (beziehungsweise nicht schmeckt) und welchen Spaß Interrailer-Partys in überfüllten und verrauchten Zugabteilen machen können. Ich fand spannende Weggefährten, lernte, dass man manchmal über die richtige Einstellung der manuellen Klimaanlage im Zug (Fenster auf oder lieber zu) diskutieren kann und dass Pantomime die wichtigste Sprache überhaupt ist, die immer ein Lächeln auf die Lippen zaubert. Ich lernte mit vielen kleinen Abschieden umzugehen, um dann anderen Menschen zu begegnen, die mir spontan, wie in Cannes, einen Schlafplatz anboten. Oder in Genua zu später Nachtzeit angekommen, als ich feststellen musste, dass ich vergessen hatte, Lire zu tauschen, und der Kneipenwirt lapidar meinte: „Pagare domani“, und ich lernte: Lass dich überraschen, das Leben ist schön.

Crossmedia-Studentin Silja Kopp brach vor wenigen Wochen mit einem gewonnenen Interrail-Ticket gen Osten auf:

Das Interrail-Ticket hat mein Freund bei einem Gewinnspiel gewonnen. Die EU verlost jedes Jahr Zugreisen an 18-Jährige, die in Europa leben. In den Semesterferien plante er, einen Monat durch Europa zu reisen. Spontan beschloss ich, für zwei Wochen mitzukommen. Als ich mir ein Ticket holte, war ich begeistert: Man kann seine Zugfahrten in eine Interrail-App auf dem Handy eintragen. Dadurch bekommt man automatisch ein digitales Ticket, das man vorzeigen kann.
Unser erstes Ziel ist Venedig. Die Reise geht turbulent los. Um kurz vor 8 Uhr steigen wir in Stuttgart in den ICE nach München ein. Von dort wollen wir den Zug nach Venedig nehmen. Doch die Fahrt mit der Deutschen Bahn läuft nicht so wie gedacht: Ein Oberleitungsschaden sorgt dafür, dass wir 1,5 Stunden später in München ankommen. Als wir in den Bahnhof fahren, können wir unserem Zug noch beim Rausfahren zuschauen.
Was lernen wir daraus: Bei Interrail muss man ruhig bleiben und spontan sein. Zwei Stunden später stehen wir mit Hunderten anderen aufgebrachten Menschen im nächsten Zug nach Venedig. Wir fahren sechs Stunden durch die Berge Österreichs und Norditaliens. Es wäre schön gewesen – hätte man einen Sitzplatz gehabt. Auf den letzten Metern wird es dann noch unerwartet teuer. Weil wir kein Italienisch können und verwirrt sind, steigen wir in den Zug eines privaten Unternehmens ein. Wir müssen 50 Euro zahlen. In Venedig angekommen, ist die chaotische Reise aber schnell vergessen. Selbst im August begeistert uns die Stadt.
Wir verbringen ein paar heiße Nächte ohne Klimaanlage im dritten Stock eines Ein-Stern-Hotels. Dann geht es nach Ljubljana, die Hauptstadt Sloweniens. Wir stellen fest: Slowenien ist ein unterschätztes Reiseziel, auf das wir ohne Interrail nie gekommen wären. Danach geht es weiter nach Zagreb. Dort wechseln wir Geld am Bahnhof und werden über den Tisch gezogen. Die Hotels haben wir schon im Voraus gebucht. Sie sind alle nicht besonders teuer gewesen. In Zagreb haben wir plötzlich eine Ameisenstraße im Zimmer, ausgelöst durch ein Muffin-Papier in meinem Rucksack.
In Budapest gönnen wir uns ein Vier-Sterne Hotel. Das Hotel und die Stadt sind super günstig, also perfekt für Studenten. Der letzte Stopp für mich ist Wien. Mein restliches Bargeld gebe ich auf dem Prater aus. Langsam merke ich, wie ich mich auf zu Hause freue. Das Reisen ist schön, aber auch anstrengend. Zu Hause angekommen, kann ich es kaum glauben, dass ich diesmal ohne Verspätung mein Ziel erreicht habe.