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Überlastung: Jetzt setzen die Rettungsdienste einen Notruf ab

Gesundheit Wer bei der 116117 nicht durchkommt, wählt häufig die 112. Die Folge: Rettungswagen müssen auch raus, wenn es nicht nötig ist. Die Einsatzkräfte geraten zunehmend an ihre Grenzen. Von Thomas Zapp​

Es ist ein Hilferuf: „Die Belastungsgrenze ist erreicht“, sagt Marc Lippe, Geschäftsführer der Malteser im Bezirk Neckar-Alb. Solche Sätze liest man in der Zeit von Corona und Personalmangel häufiger, doch dieses Mal kommt sie aus einer Berufsgruppe, die an hohe Belastungen eigentlich gewöhnt ist: Die Rettungs- und Notfallsanitäter. Michael Wucherer, Rettungsdienstleiter beim DRK Esslingen-Nürtingen, hat Zahlen zur kurzfristig einberufenen Krisen-Pressekonferenz mitgebracht. Im Jahr 2019 seien beispielsweise von 3873 Patienten, die ins Esslinger Krankenhaus gebracht wurden, 484 nach einer ambulanten Untersuchung wieder nach Hause geschickt worden. 2022 waren es von 3756 mehr als drei Mal so viel: 1557. „Warum haben die den Notruf gewählt?“, fragt nicht nur er sich.

Ein „gestiegenes Anspruchsdenken“ macht Marc Lippe schon seit Jahren aus, die Corona-Krise hat das noch verschärft. Sein „Krisenstab“ aus Johannitern, Maltesern, DRK, Landkreis, Kliniken und Ärzten trifft sich mittlerweile einmal in der Woche. Denn seit dem 1. Juni dieses Jahres gibt es für die Notdienste ein zweites Problem: Die Notfallnummer 112 und die 116 117 des ärztlichen Bereitschaftsdienstes werden nicht mehr über eine zentrale Leitstelle koordiniert, denn die kassenärztliche Vereinigung führt die 116 117 jetzt in Eigenregie und hat sie mit der Servicehotline für Arzttermine zusammengeführt.

„Sie haben jetzt im Prinzip drei Systeme, die nicht verbunden sind“, erklärt Marc Lippe: Der Notruf 112, der Bereitschaftsdienst 116 117 sowie die Notfallpraxen und Hausärzte. Vorher liefen die Nummern zusammen in der zentralen Notrufleitstelle auf, der Disponent hatte also die Möglichkeit, den Anrufer oder die Anruferin auch zu einem Arzt zu vermitteln, weil er Zugriff auf alle Daten hatte. Das geht nun nicht mehr.

Dabei ist die 112 nur für „vitale Notfälle“ gedacht, wie es der DRK-Rettungsdienstleiter Michael Wucherer erklärt, wenn also eine unmittelbare Gefahr für die Gesundheit besteht. 
 

„Unsere Leute fahren inzwischen ohne Pause von Einsatz zu Einsatz durch.
Marc Lippe
Bezirksgeschäftsführer der Malteser

 

Die Nummer des ärztlichen Notdienstes ist für Patientinnen und Patienten konzipiert, die nicht lebensbedrohlich erkrankt sind, aber mit ihren Beschwerden auch nicht bis zur nächsten Sprechstunde warten können. Aktuell liegen die durchschnittlichen Wartezeiten dort aber bei 29 Minuten. Die Folge ist, dass viele danach doch bei der 112 anrufen, weil sie auf der ersten Nummer nicht durchkommen. „Ich kann die Leute bei diesen Wartezeiten verstehen, vor allem wenn es nicht um einen selbst, sondern sein Kind geht“, zeigt Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich auch Verständnis. Der Disponent schickt dann im Zweifel lieber einen Krankenwagen zu oft als einmal zu wenig. 

Die Folgen für den Rettungsdienst sind fatal: „Der Anteil der Fehlfahrten liegt bei bis zu 30 Prozent“, sagt Michael Wucherer, Rettungsdienstleiter des DRK. Das sorgt für reichlich Frust in der Belegschaft. „Die Mitarbeiter wenden sich ab“, sagt er. 

Auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung, die keinen Vertreter in der Runde sitzen hat, scheint man mit dem neuen System nicht zufrieden zu sein. „Die sehen das auch“, sagt Michael Hennrich, Bundestagsabgeordneter für den Wahlkreis Nürtingen. Auch wenn die Reaktionszeiten schon verbessert worden seien. „Das Kernproblem ist die Kommunikation“, fasst er zusammen.

Hennrich wünscht sich nun einen konkreten Handlungsauftrag für die Politik. Damit können die Leute aus der Praxis dienen: Zurück zum alten System, eine Sensibilisierung der Menschen für das Funktionieren des Notrufs und – da gehen die Meinungen allerdings auseinander – eine Besetzung der Notrufleitstelle mit einem Arzt, der im Gegensatz zu Disponenten rechtssicher entscheiden kann, ob ein Rettungswagen rausfahren muss oder nicht. Man will mit der Kassenärztlichen Vereinigung reden, bislang gab es noch keine Rückmeldung. „Wir sind bereit, Technik und Personal sind immer noch vorhanden“, betont Michael Wucherer.

Auch andere Ideen kommen auf: „In Berlin gibt es eine Strafgebühr, wenn der Rettungswagen umsonst rausgefahren ist“, berichtet Michael Hennrich. Er denkt laut: „Sollte der Anruf bei der Notfall-Nummer grundsätzlich etwas kosten?“ Bei allen Maßnahmen müsse man das System gemeinschaftlich entlasten, appelliert Oliver Cosalter, Dienststellenleiter der Johanniter in Esslingen.

 

Was man vor dem Wählen des Notrufs bedenken sollte

Faktor Zeit: Die erste Frage, die sich Patientinnen und Patienten stellen sollten, bevor sie die 112 rufen ist: Wie lange besteht das Problem schon? „Alles was länger als ein Tag ist, muss nicht in der selben Nacht behandelt werden“, sagt Marc Lippe von den Maltesern. Wer „seit zwei Wochen Rückenprobleme“ habe, sei kein Fall für den Rettungsdienst.

Tagsüber bei Problemen den Hausarzt konsultieren und nicht warten, bis ab 19 Uhr die Notdienste im Einsatz sind.

Als vitale Notfälle gelten plötzlich auftretende gesundheitliche Probleme wie starke Schmerzen oder akute Atemnot. Natürlich zählt auch ein Unfall dazu. „Dann wird im Kreis innerhalb von sieben bis acht Minuten ein Rettungswagen vor Ort sein“, sagt Marc Lippe. Die medizinische Notfallsicherung funktioniert nach wie vor reibungslos.

Fieber oder Schlaflosigkeit oder ein schreiendes Kind sind für sich genommen keine Notfälle, oftmals nicht einmal für den Bereitschaftsdienst. „Und wenn die Menschen nicht mehr klarkommen, rufen sie den Rettungsdienst“, sagt Marc Lippe. Am besten einfach mal ältere Generationen nach Hausmitteln fragen, um sich erstmal bis zum nächsten Arztbesuch auskurieren zu können. Kalte Umschläge können „Wunder“ bewirken. Auch die Auffrischung eines Erste-Hilfe-Kurses empfehlen die Vertreter von Maltesern, Johannitern und DRK dringend. zap