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VVS-Chef: „Das 9-Euro-Ticket war Fluch und Segen“

Verkehr Gestiegene Fahrgastzahlen aber hohe Kosten und kein nachhaltiger Effekt: VVS-Geschäftsführer Thomas Hachenberger zieht eine durchwachsene Bilanz der Aktion und blickt auf das 49-Euro-Ticket. Von Thomas Zapp

Finanziell war 2022 ein wechselhaftes Jahr für die Betriebe im Verkehrs- und Tarifverbund Stuttgart: Mit insgesamt 238 Millionen Fahrten von Januar bis September hat man zwar schon fast wieder das Niveau von 2019 erreicht. In der Bilanz zu den ersten neun Monaten des Jahres liefert die VVS die Erklärung gleicht mit: Das Wachstum gegenüber 2021 lag vermutlich am 9-Euro-Ticket und den Lockerungen der Corona-Beschränkungen im zweiten Quartal.

Aber: Das sind zwar über 62 Millionen Fahrten oder 35,5 Prozent mehr als im Vorjahr, aber im Vergleich zum Rekordjahr 2019 immer noch etwa 17 Prozent weniger. Noch deutlicher fällt der Unterschied bei den Einnahmen aus: Gegenüber 2019 sind diese um knapp 130 Millionen Euro oder 35 Prozent zurückgegangen, auch bedingt durch den politisch abgesenkten Preis des 9-Euro-Tickets. Das verdeutliche, dass der Rettungsschirm für den öffentlichen Nahverkehr auch im Jahr 2022 dringend nötig ist, betont die VVS in ihrem Bericht.
 

Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen an ihre Belastungsgrenze.
Thomas Hachenberger
über die Folgen des Runs auf das 9-Euro-Ticket

 

Was das Image der VVS-Betriebe betrifft, sieht Geschäftsführer Thomas Hachenberger durch das 9-Euro-Ticket aber einen positiven Effekt: „Der ÖPNV hat ein hohes Maß an Aufmerksamkeit bekommen“, sagt er. Das sei gerade nach der großen Zurückhaltung im Zuge der Corona-Maßnahmen gut gewesen. Allerdings habe es im Verbund auch für viel Arbeit gesorgt: „Da hat es an vielen Stellen geknirscht und geknarrt, unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kamen an ihre Belastungsgrenze“, sagt er.

Es gibt noch einen Wehrmutstropfen: Zur Wahrheit gehöre auch, dass es keine große Kundenbindung durch das 9-Euro-Ticket gab. „Es wird vielleicht ein paar 1000 Abonnenten mehr geben“, sagt Hachenberger. Die meisten seien aber Gelegenheitsnutzer gewesen, wenige hätten deswegen ihre Autos stehen lassen. „Ich kenne auch Abo-Besitzer, die während der 9-Euro-Ticket-Phase auf das Auto umgestiegen sind. Der Autoverkehr ist im Schnitt vier Prozent zurückgegangen, in den Spitzen zehn Prozent. Das ist nicht nachhaltig.“

Positiv sei gewesen, so der VVS-Geschäftsführer, dass einer Analyse zufolge 80 Prozent der Kunden im eigenen Verbund unterwegs waren. „Heidelberg oder Bodensee, die Züge waren voll.“ Insofern sei die Sonderaktion „Fluch und Segen“ zugleich gewesen. Obendrein sei das Ticket relativ teuer gewesen: Die Steuerzahler hat das Ganze zwischen zwei und zweieinhalb Milliarden Euro für drei Monate gekostet. 

Nachfolger in den Startlöchern

Nun steht also das dauerhafte Nachfolgemodell kurz vor der Einführung, das 49-Euro-Ticket: „Da gibt es eine klare Ansage von unserer Seite: Ohne eine dauerhafte Finanzierung gibt es kein Ticket.“ Drei Milliarden Euro soll die bundesweite Einführung nach Angaben der Regierung kosten, das Land Baden-Württemberg wäre mit 180 Millionen Euro dabei. „Nach unseren Berechnungen könnte das aber auch vier Milliarden kosten“, sagt der VVS-Vorsitzende. Der Grund: Die Bundesregierung will eine monatliche Kündigung.

Das würde dazu führen, dass in den Sommermonaten viele kein Ticket nehmen würden, dementsprechend ein Teil der eingeplanten Einnahmen wegbrächen. „Das allein würde schätzungsweise 500 Millionen Euro mehr an Kosten verursachen“, sagt er. Die Verkehrsverbünde haben daher eine „Nachschusspflicht“ gefordert. Mit Erfolg: In der Ministerpräsidentenkonferenz Anfang Dezember haben Bund und Länder vereinbart, etwaige Mehrkosten jeweils hälftig zu übernehmen. 

Nur digital erhältlich

Außerdem hätten die Pläne der Bundesregierung einige Tücken: So soll das 49-Euro-Ticket komplett digital via Chipkarte oder Smartphone zu haben sein. Nicht alle Verbünde würden aber bereits digitale Tickets ausgeben. Für den VVS sei das aber kein Problem, so Hachenberger. Er gehe davon aus, dass diese Punkte behoben würden und das Ticket ab April kommt: „Der Druck ist groß.“ 

Zum Erfolg beitragen könnten auch Lockerungen beim Thema Maskenpflicht. „Wir hätte es im Sommer begrüßt, wie in den Supermärkten eine flexible Lösung zu bekommen, aber das war leider nicht der Fall“, meint der VVS-Geschäftsführer. Dass die Maskenpflicht in den Flugzeugen fiel und in den Zügen nicht, hat er nicht verstanden: „Es ist belegt, dass der ÖPNV kein Pandemietreiber war.“ Ärgerlich seien auch unterschiedliche Regelungen in den einzelnen Bundesländern: „Es ist an der Zeit, alles zu vereinheitlichen.“ Anfang 2023 wünscht sich Thomas Hachenberger eine einheitliche Regelung für den gesamten Öffentlichen Nahverkehr in Deutschland – spätestens mit der Einführung des 49-Euro-Ticktes.

 

Energiepreise belasten auch Verkehrsunternehmen

Die Inflation hat auch im Nahverkehr zu einer Kostenexplosion geführt, durch gestiegene Energiepreise für Diesel und Bahnstrom. Das teilt der VVS in seinem Quartalsbericht mit. Er begrüßt die Erhöhung der „Regionalisierungsmittel“, mit denen die Länder den Schienenpersonennahverkehr finanzieren, sowie die Strompreisbremse.

Im Berufsverkehr ist die Zahl der Fahrten verglichen mit dem Vorjahr ungefähr gleichgeblieben – das liegt unter anderem auch daran, dass VVS-Abonnenten frühzeitig über das 9-Euro-Ticket informiert wurden und in der Regel automatisch auf das günstige Ticket umgestellt worden sind. Nimmt man 2019 als Basis, liegt der Rückgang bei 36 Prozent. Das habe auch statistische Gründe, da alle neu verkauften 9-Euro-Tickets dem Gelegenheitsverkehr zugerechnet wurden. Das bundesweit gültige Ticket habe zudem dafür gesorgt, dass im Juni, Juli und August überhaupt keine klassischen Wochen- und Monatstickets mehr verkauft wurden, heißt es beim VVS. pm