Vor hundert Jahren fiel der Politiker Matthias Erzberger einem Attentat zum Opfer. Zwei ehemalige Marineoffiziere erschossen ihn beim Wandern im Schwarzwald. Der Mord erschütterte die junge Weimarer Republik erheblich, denn Matthias Erzberger war weit mehr als ein einfacher Abgeordneter. Außer als „Vaterlandsverräter“ schmähten seine Gegner ihn auch als „Erfüllungspolitiker“ – als einen, der sich nach Kräften bemühte, die Bestimmungen des Versailler Vertrags einzuhalten.
Während manche Zeitung ihre Genugtuung über das Attentat nicht verhehlte, wollte der Teckbote die Stimmung nicht aufheizen. Am 27. August 1921 schrieb er: „Die Schreckenskunde von der Ermordung Erzbergers […] hat die Gemüter nirgends tiefer erregt als in der schwäbischen Heimat des Mannes, dessen Charakterbild nach Schillers Wort ,Von der Parteien Gunst und Haß verwirrt‘ in der Geschichte schwankt. Aber [...] auch der persönliche oder politische Gegner muß vor der Leiche des eigenartigen Mannes, der den einen so unendlich groß und wieder anderen gar so klein erschien, die Waffe senken.“
Dennoch wird die „starke Entrüstung über die Roheit und Schamlosigkeit der Mörder“ nicht verschwiegen, auch wenn die Hintergründe noch unklar waren: „Wir wünschen alle, daß bald Licht in das dunkle Verbrechen kommt und daß die Mörder der verdienten Strafe nicht entgehen.“ Diese Hoffnung sollte indessen Wunschdenken bleiben: Erst nach Ende des Zweiten Weltkriegs kamen die Mörder vor Gericht.
Unmittelbar nach dem Mord bestand die Gefahr eines Bürgerkriegs: Am 29. August 1921 zitiert der Teckbote die „Times“ in indirekter Rede: „Die Versuche des Kabinetts Wirth, die Verpflichtungen des Friedensvertrags zu erfüllen, hätten die Reaktion aufgebracht, und es drohten neue Zusammenstöße zwischen extremistischen Elementen und neue innere
Schwierigkeiten in Deutschland.“
Der Kanzler hält die Grabrede
Reichskanzler Joseph Wirth hielt beim Begräbnis in Erzbergers Wahlkreis Biberach eine vielbeachtete Rede, die der Teckbote am Donnerstag, 1. September 1921, ausführlich zitierte. „Unser toter Freund hat […] den Zusammenbruch durch den Krieg lange vorausgesehen“, sagte Wirth, „aber seine Warnungen blieben ungehört. Er wurde verlacht, verhöhnt. Sie erinnern sich an die schwere Stunde, wo eine Delegation zum Abschluss des Waffenstillstandes in den Wald von Compiegne entsandt wurde. Erzberger […] hat sich zu dieser Arbeit nicht gedrängt. […] Auch ihm hat in jener Stunde das Herz geblutet.“ Keine drei Jahre nach dem Waffenstillstand formulierte Joseph Wirth bereits, was auch die spätere Geschichtsschreibung über den verlorenen Weltkrieg aus deutscher Sicht festhält: „Die, die die Verantwortung zu tragen gehabt hätten, sind nicht gegangen“ – weder nach Compiègne noch nach Versailles.
Weiter führte der Kanzler aus, „daß schon dieser Gang [nach Compiègne] vielleicht sein Todesgang war“. Den pragmatischen Ansatz und die Aufbauleistung Erzbergers würdigte er folgendermaßen: „Unsere Waffen hatten wir verloren. Aber um die Einheit zu retten, da riet Erzberger, den Frieden zu unterzeichnen. […] In rastlosem Kampfe von früh bis spät stritt er gegen das drohende Chaos, suchte er dem wankenden Bau neue Balken, neue Stützen einzufügen.“
Die „gigantische Größe seiner Leistungen“ zeige sich daran, dass er „das neue einheitliche Finanzwesen für das Reich aufgerichtet“ habe. Ihm sei gelungen, „was selbst einem Bismarck nicht gelang, eine einheitliche Post und Eisenbahn in Deutschland zu schaffen“. Wirth schildert eine Persönlichkeit, die die Weimarer Republik noch auf Jahre hinaus hätte prägen können: „Er hat alle begeistert durch den Weitblick seiner Ideen und durch die Kraft, mit der er sie durchzusetzen vermochte [...]. Erzberger ist seiner Zeit immer um einige Jahre vorausgeeilt. Er hat manches gesehen, was andere zu spät sahen oder gar nicht sahen. […] Alle großen Probleme hatte er erfaßt wie ein Staatsmann, der alle seine Projekte nach sachlichen Gesichtspunkten verwirklichen wollte auch dann, wenn sie das Volk zunächst selbst nicht will.“
Reichstagspräsident Paul Löbe (SPD) sprach prophetische Worte: „Wenn wir hinweggehen von diesem Grabe, so tue ich es in der Ueberzeugung, daß ihm die Geschichte geben wird, was viele seiner Zeitgenossen ihm nicht gegeben haben und daß seinem Namen einst gereicht wird, was man ihm im Leben versagte.“ Hundert Jahre nach dem Mord ist es also angebracht, Erzbergers Verdienste um die deutsche Demokratie gebührend zu würdigen.
Daten zu Erzbergers Leben und Wirken
1875: Am 20. September kommt Matthias Erzberger in Buttenhausen zur Welt
1903: Reichstagsabgeordneter der Zentrumspartei für den Wahlkreis Biberach; Broterwerb als Journalist
1918: Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrags von Compiègne
1919: Reichsfinanzminister, umfangreiche Finanz- und Steuerreform
1920: Rücktritt in Folge von Prozessen um Vorwürfe der Bereicherung und der Steuerhinterziehung; Erzberger übersteht Attentate in Berlin und in Esslingen
1921: Am 26. August wird Matthias Erzberger auf einem Spaziergang bei Bad Griesbach im Schwarzwald ermordet
1933: Erzbergers Mörder kehren nach Deutschland zurück
1946: Heinrich Tillessen wird unter Berufung auf ein NS-Gesetz von 1933 vom Mordvorwurf freigesprochen
1947: Tillessen wird nach einer Wiederaufnahme zu 15 Jahren Freiheitsstrafe verurteilt
1950: Heinrich Schulz wird zu zwölf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt
1952: Beide Mörder werden vorzeitig aus der Haft entlassen