Kirchheim

50 Kilo weniger - ein ganz neues Leben

Selbstversuch Viele Diäten versprechen Gewichtsverlust, doch meist bleiben solche Vorhaben erfolglos. Manchmal hilft es, sein Leben komplett zu ändern. Von Thomas Krytzner

Zugegeben: Sich überflüssige Pfunde anzuschaffen ist viel einfacher und geht um einiges schneller, als sie wieder zu verlieren. In meinem Fall war das Zunehmen sogar recht gemütlich und durch den damaligen Job bedingt. Als rechte und linke Hand eines Schweizer Familienbetriebes für Samenhandel war ich recht schnell integriert und saß bald bei den Mahlzeiten jeweils mit am Tisch. Die Esserei war über den ganzen Tag verteilt: morgens um halb acht gab es üppiges Frühstück mit Brot, Butterzopf, Marmelade und weiteren Köstlichkeiten. Kurz danach wartete das „Znüni“ - die Kaffeepause - mit süßen Stücken, bevor um Punkt zwölf ein deftiges Mittagessen mit Dessert folgte. Nachmittags standen zum „Zvieri“ - eine kleine Zwischenmahlzeit um vier - Aufschnitt und Brot bereit, und wenn die Arbeit länger dauerte, war ich auch noch zum ausgiebigen Abendessen eingeladen. Und das jeden Tag, sechsmal die Woche.

Vom Leichtathleten zum Koloss

Einige mögen jetzt denken, mit einer gesunden Freizeitgestaltung könnte die Gewichtszunahme verhindert werden. Das stimmt aber nur, wenn man auch Freizeit hat. Da aber der Patron des Betriebs durch seine Zuckerkrankheit - woher er die hatte, sei mal dahingestellt - fast blind und nicht mehr gut zu Fuß war, spielte ich auch noch Privatchauffeur. Das bedeutete, jeder Weg ins 50 Meter entfernte Gewächshaus wurde mit dem Auto zurückgelegt. So verhinderte der Chef nicht nur unnötige Bewegung bei sich, sondern auch bei mir. Oft brüteten wir abends stundenlang über neuen Werbeprospekten für Samen und Erdbeerpflanzen. Das ging nicht ohne ein bisschen Nervennahrung nebenbei.

Die ersten 25 Jahre meines Lebens war ich schlank und sportlich. Im Turnverein gehörte ich der Leichtathletikgruppe an und konnte mein Gewicht ohne große Anstrengung halten. Mit dem Jobwechsel zum Samenhändler war auch ein Umzug in einen anderen Ort verbunden. Da fehlte erst mal der Anschluss. Die zum Teil ausufernden Arbeitsstunden kamen gerade recht. So nahm der Aufbau des Gewichts also seinen Lauf. Innerhalb von 18 Monaten wechselte die Anzeige der Waage von 78 Kilo zu 133 Kilo. Nicht nur die Anzeige änderte sich, sondern auch mein Umfang. Die zusätzlichen Kilos setzten sich am Bauch und im Gesicht fest. Es wurde runder. Am Anfang störte die unnötige Fettmasse nicht, denn ich wusste ja, woher sie kam. Das Leben nahm seinen Lauf, es gab berufliche und private Veränderungen. Nur eines blieb: das Gewicht.

Bei einem ärztlichen Generalcheck folgte eine aufschreckende Bilanz: „Sie sind ein metabolischer Patient“, lautete die Diagnose der Ärztin. Sie stellte - wie könnte man es anders vermuten - Adipositas fest und erklärte nüchtern, dass die Verbindung Übergewicht, hoher Blutdruck und Rauchen die besten Voraussetzungen für einen nahen Tod seien. Mit 45 Jahren dem Leben Lebewohl zu sagen, war jedoch nicht mein Wunschgedanke, und so folgte ich dem Rat der Medizinerin: Bewegung ins Leben bringen.

Mit immer länger werdenden Spaziergängen, dem Erklimmen von unzähligen Treppenstufen und einer gesünderen Ernährung begann ich, dem drohenden Schlaganfall entgegenzuwirken. Das klappte nur mäßig. Aber durch zusätzliche Medikamente konnten zumindest Blutdruck und Blutzucker gesenkt werden.

Traumjob fördert Gewichtsverlust

Rund 20 Kilo habe ich innerhalb des ersten Jahres verloren. Viele Pfunde davon schreibe ich der wiedergefundenen Bewegungsfreude zu. Der größte Einschnitt, und ich verbuche es als Erfolg, kam jedoch mit der Verwirklichung meines Traumberufs: Journalist zu werden. Ich verließ den gemütlichen Bürojob und fand mich in einer ganz anderen Welt wieder. Es war zwar nicht geplant, durch diesen Wechsel im Beruf Gewicht zu verlieren, aber die Schreiberei hatte einen positiven Nebeneffekt: Wer als Journalist unterwegs ist, kommt mit vielen Menschen an unterschiedlichsten Orten zusammen. Ein volles Auftragsbuch bedeutet zwar auch Stress, aber wenn man das Hobby zum Beruf macht, ist es ein positiver Stress. Außerdem ist man selten vor Überraschungen gefeit: Eine Begehung der Streuobstwiesen entpuppt sich nicht als halbstündiger Fototermin mit hochrangigen Politikern, sondern als fünf Kilometer lange Wanderung um Neidlingen herum. Wo man als Reporter auch hinkommt, irgendwie ist man dauernd zu Fuß unterwegs und an der frischen Luft. Und siehe da, plötzlich begannen die Pfunde zu purzeln - ohne weitere Zunahme von Medikamenten. Plötzlich kriegt man wieder besser Luft und die Ausdauer steigt. Mittlerweile zeigt die Blutdruckmessung wieder normale Werte und die Anzeige der Waage bleibt bei unter 90 Kilo stehen - fast 50 Kilo weniger als zuvor.