Kirchheim

Auf der Suche nach Glurak

Wer zwei Pokémonjäger bei ihrem Wettlauf begleitet, sieht Kirchheim danach mit anderen Augen

Oh nein, schon wieder ein Traumato!Foto: Carsten Riedl
Oh nein, schon wieder ein Traumato!Foto: Carsten Riedl

Kirchheim. Das rot-weiße Bällchen fliegt, fliegt, noch ein Stück weiter. Es sinkt hinunter und – plopp – prallt auf den grauen Pflastersteinen der

Kirchheimer Fußgängerzone ab, rollt noch ein bisschen in Richtung Zebrastreifen und bleibt liegen. Daneben. Das Zubat flattert fröhlich weiter. Nächster Versuch. Diesmal klappt‘s. „Toll!“, sagt mir mein Handy. Als ich jedoch von meinem Handydisplay aufblicke, ist Zubat verschwunden. Stattdessen stehen rund um die Kirchheimer Stadtbücherei eine Horde Jugendlicher, die wie im Wahn auf ihre Handydisplays starren. Jemand hat ein Lockmodul geschaltet, das virtuelle Pokémon mit einem lieblichen Duft in die Nähe lockt. So jemand bleibt nicht lange ohne Begleitung. Vor allem lockt das Modul nämlich gierige Pokémonjäger.

Markus Schurr und Florian Dukat sind zwei von ihnen. Für die beiden Schlierbacher ist Kirchheim ein Pokémon-Paradies.

Rückblende: Vor fünf Wochen hat das amerikanische Entwicklerstudio Niantic das Handyspiel Pokémon Go in Deutschland auf den Markt gebracht und löste damit eine Revolution in der App-Welt aus. Per Augmented Reality, der „erweiterten Realität“, werden virtuelle Elemente beim Spielen in die Umgebung integriert – und die Umgebung wird ein Teil des Spiels. Markus Schurr und Florian Dukat haben sich gefreut. Endlich können sie die App auch offiziell nutzen. Inoffiziell hatten sie sie natürlich schon Tage zuvor.

Wer mit der Pokémon-App durch die Gegend läuft, bewegt sich, wie in der Realität auch, in den Straßen seiner Stadt. Die Google-Maps-basierten Karten auf dem Display zeigen einem genau, an welcher Straßenecke man sich gerade befindet – nur, dass aus dem Kirchheim, das man kennt, plötzlich eine Pokémonwelt geworden ist. Die Straßen leuchten in blau und grün. Das Rathaus ist eine Kampfarena, die Bastion oder die Martinskirche werden zu Pokéstops – Stationen, an denen Pokémonjäger sich wertvolle Gegenstände abholen können. Kirchheim wird ein anderes. Dinge, die man nie zuvor wahrgenommen hat, tauchen plötzlich vor einem auf. Wahrscheinlich waren sie schon immer da, aber bemerkt wurden sie nie: „Was soll das sein?“, ruft Markus Schurr, als er, mit dem Blick gesenkt auf seinem Handy, in der Marktstraße neben dem Rathausanbau ankommt. Pokéstop neben ihm. „Betonmichas Kunst“, steht auf dem Display. Aber wo? Blick nach links, Blick nach rechts, Blick nach unten, dann nach oben. Dann erst sieht er die abstrakten Formen an der grauen Mauer. Viele Pokémonjäger sehen es erst auf der Suche nach Pokéstops. Andere vielleicht nie.

Markus Schurr und Florian Dukat sind extra nach Kirchheim gekommen, um auf die Suche nach Magne­tilos, Traumatos und Co. zu gehen. Kirchheim ist eines ihrer näheren Ziele. Denn verglichen mit ihrem Heimatort Schlierbach ist die Teckstadt eine richtige Pokémon-Hochburg. Die Viecher lauern an jeder Ecke, die Türme der mächtigen Arenen überragen die Dächer, überall rascheln die Blätter, unter denen sich wilde Pokémon versteckt haben. Man kann hier eine Menge fangen – doch wer ein erfolgreicher Jäger sein will, darf nicht stillstehen. Er muss sich bewegen.

Die 6,2 Kilometer von Schlierbach nach Kirchheim sind für Profis ein Katzensprung. Markus Schurr ist in vier Tagen 21 Kilometer gelaufen. Florian Dukat fährt mit seinen Kumpels quer durch den Landkreis. Wo sind die Grenzen? „Also wenn ich wüsste, dass meinetwegen in Baden-Baden ein Glurak wäre. Ich würd‘s mir überlegen“, sagt Dukat. Er scheint es ernst zu meinen. Schließlich macht er auch jetzt schon täglich Abendspaziergänge, um Pokémoneier auszubrüten, die er gefunden hat. Jene schlüpfen nämlich nur, wenn man bestimmte Entfernungen in Fußgeschwindigkeit zurückgelegt hat. „Meine Mutter hält mich seitdem für total durchgeknallt“, erzählt der 23-Jährige, während er sich langsam der Maff nähert. Der Schrittzähler läuft.

„Ey, seid ihr Team Rot?“, schreit plötzlich ein Mädchen von der Seite. „Nein, Team Blau, Mann“ – „Oh.“ In Kirchheim liefern sich die beiden Teams ein heißes Gefecht um die Hoheit über die meisten Arenen. Die Momente des Triumphs sind meist nur von kurzer Dauer. Für wenige Minuten stößt Team Blau Team Rot am Eiscafé Venezia vom Thron. Dann erscheint schon die nächste Gruppe Jugendlicher, die ein paar Meter weiter stehen bleibt und den Kampf aufnimmt. Andere Pokémonjäger erkennen Florian Dukat und Markus Schurr schon auf hundert Meter – die Art der Bewegungen, die Unterhaltungen, die kleinen Grüppchen. Setzt man sich diese Brille für einen Tag auf, weiß man wieso. Die Stadt ist eben anders, wenn man ein Pokémonjäger ist.