Kirchheim
Aus Tadschikistan an die Teck

Erfahrung Nilufari Ramazon kam vor einem Jahr als Au-pair nach Kirchheim. Jetzt macht sie ein Freiwilliges Soziales Jahr bei der Lebenshilfe. Über Briefmarken aus Papier, Goethe und ein bisschen Mut. Von Julia Nemetschek-Renz

Die zweite Treppenstufe hat sie genommen. Nilufari Ramazon steht im Hof der Lebenshilfe Kirchheim in der Saarstraße. 4800 Kilometer weit weg von Zuhause – Luftlinie. Sie kommt aus Duschanbe, der Hauptstadt Tadschikistans, mitten im asiatischen Hochgebirge. Neun Millionen Menschen leben dort. Die Nachbarn ihres Heimatlandes sind China und Afghanistan, ihre Muttersprache ist eng mit dem Persischen verwandt.

„Oh Nico, da bist du ja!“ ruft sie und geht lächelnd auf Nico Schwend zu. Er steigt aus dem Bus, ist müde von der Arbeit in der Werkstatt. „Hallo, Nilu.“ Sie neigt den Kopf zur Seite und schaut ihm ruhig ins Gesicht. Er sieht traurig aus. „Warum Nico? Was passiert mit dir?“, fragt sie und streichelt ihm über den Arm. „Komm, wir gehen rein.“ Zusammen gehen sie ins Wohnheim – Zuhause für 24 Menschen mit Behinderung. Nilufari Ramazon macht hier ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Wohngruppe im Obergeschoss.

Studium der Philologie

„Ich gehe eine Treppe“, erzählt Nilufari Ramazon. Deutsche Philologie hat sie in Tadschikistan studiert, in der Nationalbibliothek gearbeitet. „Goethe und Schiller, kenne ich alles!“ Sie lacht. Ein Jahr musste sie auf ihr Visum für Deutschland warten. Nach Russland hätte sie sehr leicht auswandern können, dort auch arbeiten oder studieren, ohne Visum. Das machen auch viele Tadschiken, in Russland verdienen sie mehr als in ihrem Heimatland. Nilufari Ramazon wollte nach Deutschland. Ihre Mutter, eine Ärztin, sagte: „Ich werde dich sehr vermissen. Aber, wenn du das willst, dann kannst du in Deutschland bleiben.“ Und jetzt geht sie die Treppe hoch: Erste Stufe – Au-pair. Zweite Stufe FSJ. Dann eine Ausbildung in der Pflege, das ist ihr Plan. Nilufari Ramazon verschränkt die Arme. „Ich bin 24, manche heiraten in meinem Alter. Ich nicht.“

Jetzt sitzen alle am großen Tisch in der Wohnküche im Obergeschoss. Heilerziehungspflegerin Sina Stiefelmeyer schaut in die Runde: „Herzlich Willkommen zuhause! Wie war euer Tag?“ Alle planen gemeinsam das Essen für die Woche. Haferflocken zum Frühstück kommen mittel an, Weckle mit Nutella besser. Und dann hat Uwe Stifter eine Idee: Joghurt mit Artischocken zum Frühstück! Alle amüsieren sich.

Doch jetzt fehlt die grüne Kiste. „Holst du sie schnell?“, ruft Sina Stiefelmeyer ihrer FSJlerin zu. Nilufari Ramazon eilt in den Hausflur und kommt mit einer kleinen grünen Plastikbox wieder. „Toni braucht sie. Er bastelt gern kleine Briefmarken aus Papier und die kommen in diese Kiste,“ erzählt sie und bringt die grüne Box in sein Zimmer. Er sitzt am Schreibtisch, sie stellt sich neben ihm. „Mir geht’s gut“, sagt Anton Domansky. Und Nilufari Ramazon bewundert seine kleinen Briefmarken in der grünen Kiste. Leicht und vorsichtig streicht sie ihm die weißen Haare aus dem Gesicht. Und geht mit kleinen schnellen Schritten wieder in die Wohnküche. Monika Bäuerle sitzt noch am Tisch. „Oh Moni, warte“, Nilufari Ramazon setzt sich zu ihr, stößt mit ihrer Teetasse an das Saftglas der WG-Bewohnerin. Um 22 Uhr wird Nilufari Ramazons Dienst enden. Dann wird sie einmal quer über den Hof gehen, dort lebt sie in der inklusiven WG mit zwei Menschen mit Behinderung zusammen. Morgen, an ihrem freien Tag, will sie ihre Freundinnen in Kirchheim treffen, Fußballspielen mit den Kindern aus den ehemaligen Gastfamilien der Au-pairs oder zur Burg Teck wandern.

Wie viel Mut braucht man, um diese Treppe in Deutschland zu gehen? Nilufari Ramazon schüttelt den Kopf und schaut Monika Bäuerle an. Sie lächelt strahlend zurück. „Keinen Mut“, sagt sie. „Ich bin gern hier, alle freuen sich, dass ich da bin.“ Und dann überlegt sie: „Doch, manchmal finde ich mich mutig, ein bisschen.“

 

Die Freiwilligendienste

Rund 100 000 Menschen machen im Jahr einen Freiwilligendienst in Deutschland. Die meisten direkt nach der Schule – etwa zehn Prozent eines jeden Jahrgangs beginnen nach der Schule erstmal ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) oder den Bundesfreiwilligendienst (BFD). Diese beiden großen Freiwilligendienste dauern in der Regel ein Jahr, es gibt ein Taschengeld von etwa 500 Euro, Fahrtkostenzuschüsse, Bildungs- und Seminartage. Einsatzbereiche sind Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen, Schulen und Kindergärten, Feuerwehren und Vereine.

Für den BFD gibt es keine Altersbeschränkung und man kann ihn mehrmals machen. Wer ein FSJ machen möchte, muss jünger als 27 Jahre sein. Dafür ist das FSJ offen für Bewerberinnen aus aller Welt. Nicht-EU-Bürger können unkompliziert ein Visum beantragen. Voraussetzungen sind: Eine abgeschlossene Schulausbildung, Deutschkenntnisse und ein Alter von höchstens 27 Jahren. 802 Personen sind laut dem Bundesamt für Familie im Förderjahrgang 2021/2022 für ein FSJ aus dem Ausland nach Deutschland eingereist.

30 000 Einrichtungen gibt es bundesweit, die ein FSJ anbieten und 280 Träger, die die 53 000 FSJler begleiten und die Bildungstage organisieren. Nur rund ein Drittel aller FSJler sind Männer, und ein Viertel ist jünger als 18 Jahre. 3216 Menschen haben in Baden-Württemberg im Jahr 2022 den Bundesfreiwilligendienst absolviert, 12 035 junge Menschen ein FSJ.

Die Lebenshilfe Kirchheim bietet elf Plätze für die Freiwilligendienste an. Im Wohnbereich, im inklusiven Carl-Weber-Kindergarten und im Arbeitskreis für Menschen mit Behinderung. Aktuell gibt es noch freie Plätze. Informationen sind zu finden unter www.lebenshilfe-kirchheim.de oder 0 70 21/9 70 66 24. jnr