Kirchheim
Bahnverkehr: „Kirchheim wird abgehängt“

Mobilität Auf der Neubaustrecke nach Ulm flitzen ICE und IRE mit Tempo 250 und Tempo 200 an Kirchheim vorbei. Doch Einsteigen erfordert viel Zeit und Umwege. Von Peter Dietrich

Der ICE fährt mit Tempo 250 in Richtung Ulm, der neue IRE 200 ab Wendlingen immerhin mit Tempo 200. So braucht er von Wendlingen nach Ulm nur 27 Minuten. Doch wie ist es, wenn jemand aus Kirchheim kommt? Will er um 10.24 Uhr in Wendlingen einsteigen, um 10.51 Uhr in Ulm zu sein, muss er in Kirchheim bereits die S-Bahn um 9.50 Uhr nehmen. Er hat dann in Wendlingen satte 27 Minuten zum Umsteigen – exakt so lange, wie die anschließende Fahrt mit dem IRE 200 dauert. In der Gegenrichtung geht es schneller: Die Ankunft aus Ulm in Wendlingen ist – wenn pünktlich – zur Minute 59, weiter nach Kirchheim geht es schon vier Minuten später. „Kirchheim – Ulm dauert also eine Stunde und eine Minute, das ist immerhin zwölf Minuten schneller als bisher“, sagt der Nahverkehrsberater Hartmut Jaissle aus Unterlenningen. Er hat für den Teckboten den neuen Fahrplan analysiert.

Wer von Weilheim aus nach Ulm wolle, sagt er, der sei mit dem Bus über Zell und dem Zug ab Uhingen mit einer Stunde und 46 Minuten fast gleich schnell wie über Wendlingen mit der S-Bahn und dem neuen IRE 200, der Umweg über Wendlingen spare nur fünf Minuten. Was Hartmut Jaissle ebenfalls zu Bedenken gibt: „In drei Jahren ist der Spaß vorbei.“ Dann soll der S21-Bahnhof in Stuttgart in Betrieb gehen, Fern- und Regionalzüge fahren dann von Ulm über den Flughafenbahnhof nach Stuttgart, also mit Tempo 250 oder 200 an Wendlingen vorbei.

In Merklingen und Umgebung profitieren rund 60.000 Einwohner vom eilends geplanten Regionalbahnhof. In Kirchheim wären im gleichen Radius viel mehr Menschen anzuschließen. Dass der ursprünglich geplante Halt an der Schnellbahnstrecke nicht weiterverfolgt wurde, lag unter anderem an der Stadt Kirchheim: Sie hatte befürchtet, bei dessen Bau keine S-Bahn zu bekommen. Dabei wäre eine Verknüpfung von S-Bahn, Bus und Fernverkehr in der Nähe von Kirchheim sehr sinnvoll gewesen.

Ein Interregio-Express auf der Fahrt nach Ulm. Foto: Carsten Riedl

Ebenfalls in der Versenkung verschwand der Wendlinger Turmbahnhof: Für ihn sollten neben der Autobahn an der Schnellbahnstrecke und an der kreuzenden Neckarbahn nach Tübingen Bahnsteige und Rolltreppen gebaut werden. So hätten Fahrgäste zwischen beiden Ebenen umsteigen können, unten die Neckarbahn und oben die Schnellfahrstrecke. Auch das wäre höchst sinnvoll gewesen, wurde aber aus Kostengründen gestrichen, um das teure Gesamtprojekt nicht zu gefährden. „So holen uns jetzt die Folgen damaliger Fehlentscheidungen ein“, sagt Jaissle.

Hinzu kommt: Die Verbindung vom Raum Kirchheim nach Stuttgart ist mit dem Fahrplanwechsel langsamer geworden. Wer in Plochingen von der S-Bahn in den schnellen Regionalexpress aus Lindau umstieg, war bisher stündlich in 35 Minuten in Stuttgart. Nun kommt der Zug aus Lindau früher, der Fahrgast bleibt in der S-Bahn sitzen und ist 45 Minuten unterwegs. Eine halbe Stunde versetzt konnte man in 37 Minuten in Stuttgart sein, wenn man ab Plochingen den Metropolexpress nahm. Diese Verbindung blieb erhalten und dauert nun 38 Minuten.

Beim Fernverkehr sind die Verschlechterungen drastisch. Wer in Plochingen in den Intercity umstieg, kam bisher in einer Stunde und 23 Minuten von Kirchheim nach Heidelberg. Nun hat die Deutsche Bahn den IC durch den moderneren ICE ersetzt, der aber in Plochingen durchfährt. Wer sein Herz in Heidelberg verlieren will, muss deshalb aus Kirchheim eine halbe Stunde länger anreisen.

Blicken wir einige Jahre voraus: Dann führt der Weg zum Fernverkehr von Kirchheim aus entweder mit dem Relex-Bus zum Flughafenbahnhof oder mit der S-Bahn zum Stuttgarter Hauptbahnhof. Die Anreise zum Fernverkehr mit Bus oder S-Bahn dauert dann länger als die ICE-Fahrt nach Ulm, Heidelberg oder Mannheim. Am komischsten ist das dann bei der Fahrt Richtung Ulm: Dann darf der Fahrgast, mehr als eine Dreiviertelstunde nach seiner Abfahrt in Kirchheim, nochmals seiner Heimatstadt zuwinken, wenn er mit Tempo 250 an ihr vorbeirast.