Kirchheim
Bekiffte Alemannen, nackte Männer und leere Kassen

Kabarett Vor der Wiedereröffnung des „3 K“ führte Andreas Kenner gestern in aller Frühe seine Gäste durch die Kirchheimer Geschichte – mit Varianten und Ausschmückungen der besonderen Art. Von Andreas Volz

Er hat seine eigene Art, his­torische Fakten zu interpretieren. Die Fakten nimmt Andreas Kenner durchaus zur Kenntnis - um daraus Geschichten zu spinnen, die unterhaltsamer sind als die reine Geschichte. Beweise für seine Thesen braucht es nicht, der Erfolg gibt ihm recht. Und dieser Erfolg misst sich in der Zahl an zwerchfellerschütternden Lachern. Selbst morgens um 5 Uhr hat der SPD-Stadtrat und -Landtagsabgeordnete die Lacher bei einer Stadtführung auf seiner Seite.

Und das ist nicht einfach, denn die Bedingungen sind erschwert. Die Uhrzeit ist das geringste Problem. Weitaus schwieriger: In der Lockdown-Öffnungs-Phase dürfen nur 25 Personen vor Ort sein. Noch schwieriger: Eigentlich darf es gar keine Stadtführung geben. Andreas Kenner findet den passenden Ausweg. Er geht „in die Tiefe des Raumes“ und konzentriert sich auf zwei wesentliche Punkte der eins­tigen württembergischen Landesfestung: den heutigen Rollschuhplatz und den Schlossgraben. Zur Strecke, die dazwischenliegt, sagt er: „Laufa derf mr ja in dr Stadt - ond wenn i dabei nix schwätz’, isch’s au koi Stadtführung.“

Die Ankündigung hatte „1000 Jahre Stadtgeschichte in 60 Minuten“ versprochen und damit in beiden Fällen stark untertrieben. Eine Stunde ist für Andreas Kenner ebenso ein Näherungswert wie die 1000 Jahre - auch wenn er pflichtschuldigst das Jahr 960 als dasjenige der ersten urkundlichen Nennung erwähnt. Schon der Beginn der stationären Stadtführung ist ein Paukenschlag: „Kirchheim ist älter als Babylon“, sagt Andreas Kenner und belegt das mit der Tatsache, dass in Kirchheim eine der ältesten jungsteinzeitlichen Siedlungen nachgewiesen wurde - „über 7000 Jahre alt“.

Die Abstammung der Kirchheimer an sich führt er einerseits auf die Spanier zurück, die Kirchheim ab 1548 für vier Jahre besetzt hielten, und andererseits auf die Alemannen. Gerade die hatten es in sich: „Es gibt einen signifikant hohen Cannabis-Anteil in ihren Knochen.“ Warum es sich also um „kiffende Alemannen“ gehandelt haben muss, erklärt er folgendermaßen: „Unsere Stadt heißt Kirchheim, weil hier eine der ersten Kirchen in der Gegend stand. Um uns herum lebten noch lauter Heiden. Als der Nachschub an Weihrauch aus dem Orient ausgeblieben war, hat man sich auf Cannabis besonnen. Da hatten die dann recht schnell eine Marienerscheinung.“

Das Prinzip seiner Stadtführungen umschreibt er mit einer Anfrage der „Country Ladies“ - also der Landfrauen - aus Leinfelden-Echterdingens Partnerstadt York in Pennsylvania: „Die haben eine Stadtführung mit fun and knowledge bestellt.“ Das ist nichts anderes als das bildungsbürgerliche Ideal von „prodesse et delectare“, von Nützen und Erfreuen: Wertvolle Informationen werden schmackhaft dargeboten.

Weitere Beispiele: „1812 sind 15 000 württembergische Männer mit Napoleon nach Moskau gezogen, und nur 400 sind wieder zurückgekehrt. Einer davon war Johann Gottlieb Kugler, der seine Regimentskasse aus Moskau wieder zurückgebracht hat. Sie steht heute noch in Kirchheims Kämmerei - aber leider ist sie leer.“ Eine eigene Geschichte aus der neueren Zeit ist die Eröffnung des Clubs Bastion im Jahr 1968: „Das war ein Kunstskandal. Nackte Männer urinierten auf der Bühne.“ Vielleicht lässt sich das in naher Zukunft wiederholen: „Gegen 200 000 Euro für einen guten Zweck wäre ich bereit, die Szene nachzustellen.“

Sparprogramm für blinden König

Kurz werden bedeutende adlige Schürzenjäger gestreift, die in Kirchheim einst ihr Unwesen trieben - von Herzog Karl Eugen bis hin zu Fürst Franz von Teck, dem Urgroßvater der heutigen englischen Königin. Eine von Franz’ Cousinen war mit König Georg  V. von Hannover verheiratet. Als dieser Herzogin Henriette, die Großmutter seiner Frau, besuchte, zeigte sich die besondere Schläue der Kirchheimer: „König Georg war blind, und da hat der Gemeinderat gesagt, wir können uns die Illuminierung der Stadt sparen.“

Nicht ersparen wollten sich die Teilnehmer am Ende der kurzweiligen Führung dagegen das Frühstück bei Kenners Ko-Veranstalter Michael Holz. Der eröffnete sein „3 K“ nach sieben Monaten Lockdown: Die Corona-Pandemie ist ein künftiges Kapitel Kirchheimer Stadtgeschichte. Andreas Kenner kann es hoffentlich schon bald in seine Führungen einarbeiten.