Kirchheim

Damit die Erde nicht zur Hölle wird

Volkstrauertag Auf dem Alten Friedhof erinnert Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker an die Opfer des Krieges, auch an Menschen im Exil Von Peter Dietrich

Gedenkfeier zum Volkstrauertag auf dem Alten Friedhof in Kirchheim unter Teck - Schülerinnen des Ludwig-Uhland-Gymnasiums tragen
Gedenkfeier zum Volkstrauertag auf dem Alten Friedhof in Kirchheim unter Teck - Schülerinnen des Ludwig-Uhland-Gymnasiums tragen Gedichte vor, sie hatten diese sogar beinahe auswendig gelernt

Wiederholt sich Geschichte? Nein, meinte Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker bei der Gedenkfeier zum Volkstrauertag auf dem Alten Friedhof in Kirchheim. Aber alte Probleme könnten in neuem Gewand wieder auftauchen. Wer sich mit dem Nationalsozialismus befasst, sieht, wohin Verblendung, Rassenwahn und Hass führen können. „Aber er lernt auch, die Anfänge zu erkennen.“ Der Humanität und den Menschenrechten müsse immer wieder neu Geltung verschafft werden. „Es ist eine bleibende Aufgabe, zu verhindern, dass die Erde zur Hölle wird.“

Der Erste Weltkrieg forderte rund 17 Millionen Menschenleben. Im Zweiten Weltkrieg war die Zahl der Opfer noch höher: „Nach viereinhalb Jahren waren weltweit fast 65 Millionen Tote zu beklagen, die meisten davon Zivilisten.“ Unfassbare Zahlen, hinter denen Menschen stehen, auch „junge Kirchheimer Bürger, denen der Krieg die Chance geraubt hat, zu lachen, ihre Ideen, ihr Können umzusetzen, die Chance, zu lieben.“ Junge Menschen wurden sinnlos verheizt. „Das waren keine Helden, sondern Opfer einer Politik, die den Krieg glorifiziert hatte.“ Hinzu kamen die Menschen, die den Krieg nur „schwer verletzt an Leib und Seele“ überlebten.

Matt-Heidecker erinnerte an vergessene Geschichten wie die 1946 angelegten anonymen Kindergräber. Sie stünden für doppeltes Leid, das der vergewaltigten Mütter und ihrer nicht gewollten Kinder. Aus diesen Gräbern schreie uns die „Unfähigkeit zu trauern“ an, denn auf den Zusammenbruch von 1945 folgte direkt die Verdrängung.

Weiter erinnerte Matt-Heidecker an ermordete Juden, Sinti und Roma und an alle, die wegen ihrer politischen Einstellung, sexuellen Orientierung, ihres Widerstands gegen die Diktatur oder irgendeines anderen Grunds verfolgt, gefoltert und ermordet wurden. Sie erinnerte an die Zivilbevölkerung Polens und der Sowjetunion, an ermordete Partisanen und die toten Soldaten der Alliierten. Sie erinnerte an die zivile deutsche Bevölkerung in Bomben und Gewalt und an alle, die auf der Flucht und während der Vertreibung starben. Und an deutsche Soldaten: „Ob sie schuldig oder unschuldig waren, oder ob sie wie die meisten Menschen auf einer der vielen Graustufen zwischen Schuld und Unschuld standen, auch um sie trauern wir.“ Der Bogen ging bis heute zu Bundeswehrsoldaten, die im Auslandseinsatz ums Leben kamen und zu Flüchtlingen, die im Mittelmeer ertranken. Die gemeinsame Trauer an diesem Tag zeige, wie kostbar Demokratie und Menschenrechte, wie kostbar Europa sei. „Es darf nicht national gesinnten Politikern überlassen werden.“

Das Jahresthema des Volksbunds Deutscher Kriegsgräberfürsorge, so die Oberbürgermeisterin weiter, laute „Flucht und Vertreibung“. Vertrieben wurden auch die Deutschen in Bulkes, dem heutigen Bacˇki Maglic´. Nun solle zwischen der serbischen Kommune und Kirchheim eine Städtepartnerschaft geschlossen werden, deren treibende Kraft seien die Vertriebenen. „Sie sind zu Brückenbauern eines Europas geworden.“ Zu Flucht und Vertreibung gehöre auch das Leben im Exil. Viele Menschen zerbrachen daran, begingen Suizid, wurden nervenkrank wie Nelly Sachs in Stockholm. „Bei ihr waren die Nazis in den Wasserrohren, in den Leitungen.“ Dennoch, bedauerte Matt-Heidecker: „Wer im Exil war, gilt in Deutschland bis heute nicht als Opfer.“

Sichtlich bewegt rief sie zu einer Schweigeminute auf und dankte den Anwesenden aus drei Generationen. Zu diesen gehörten drei Schülerinnen des Ludwig-Uhland-Gymnasiums, die gut vorbereitet Gedichte zu Krieg und Frieden rezitierten. Für die musikalische Gestaltung sorgten der Liederkranz und die Stadtkapelle Kirchheim, unter anderem mit einem wunderschönen Arrangement von „Morning has Broken“.

In Jesingen, Ötlingen und Lindorf gab es parallele Gedenkfeiern mit den Ortsvorstehern und Geistlichen. Die Gedenkfeier in Nabern beginnt am Totensonntag, 20. November, um 9.20 Uhr mit dem Gottesdienst in der Evangelischen Johanneskirche und um 10.30 Uhr am Mahnmal für den Frieden auf dem Friedhof Nabern.

Auf dem Alten Friedhof fand gestern eine bewegende, generationsübergreifende Gedenkfeier zum Volkstrauertag statt, bei der auch
Auf dem Alten Friedhof fand gestern eine bewegende, generationsübergreifende Gedenkfeier zum Volkstrauertag statt, bei der auch Schülerinnen Gedichte rezitierten.Fotos: Peter Dietrich

Erinnerung an zivile Opfer

Mit einem Denkmal will Kirchheim an zivile Opfer der Nazidiktatur erinnern. Entwickelt wird es generationenübergreifend von Bürgern, der Künstlerin Monika Majer, dem Verschönerungsverein, dem Kreisjugendring, dem Jugend-Rot-Kreuz und der Stadtverwaltung. Es soll laut Matt-Heidecker gegenüber dem Denkmal der gefallenen Soldaten am südlichen Ende des Alten Friedhofs aufgestellt werden. Auf der Skulptur wird in Zitaten der Opfergruppen gedacht: Juden, Euthanasieopfer, Sinti und Roma, politische Gegner, Homosexuelle, Kinder, Frauen, Männer, Mütter und Väter. Demnächst entscheidet der Gemeinderat über die Verwirklichung: „Ich bin sehr zuversichtlich, dass wir dieses Projekt umsetzen, es ist mir eine Herzensangelegenheit.“ Das Projekt ist auf Spenden angewiesen. Eine Spendenkampagne startet am Tag des Gedenkens der Opfer des Nationalsozialismus, dem 27. Januar.pd