Kirchheim

Das Meer und andere Geister rufen

Musiklesung Michael Stülpnagel und Johannes Weigle sind gemeinsam zu Gast im Sommerprogramm der Kirchheimer Stadtbücherei. Von Ulrich Staehle

Michael Stülpnagel spricht über das Meer. Musikalisch begleitet wird er von Johannes Weigle.Foto: Carsten Riedl
Michael Stülpnagel spricht über das Meer. Musikalisch begleitet wird er von Johannes Weigle. Foto: Carsten Riedl

Texte und Töne werden für diese Veranstaltungsreihe angekündigt. Beim aktuellen Programm „Das Meer erzählen“ dominiert im Gegensatz zum vorigen der Text gegenüber den Tönen. Nach einer kurzen musikalischen Einleitung durch Johannes Weigle ergreift Michael Stülpnagel das Wort und macht den Anwesenden ausführlich klar, dass sie aus dem Meer stammen sowie die ganze Menschheit - wie bereits schon ein griechischer Philosoph behauptet hat. In Milliarden von Jahren habe sich das Lebewesen Mensch über verschiedene Zwischenformen entwickelt. Wenn der Mensch jetzt an Land lebe, lebe er eigentlich im Exil. Wenn er sich dem Meer zuwende, kehre er in seine Urheimat zurück. Eine „sehnsuchtsvolle Reise“ dahin verspricht Stülpnagel und hat dafür passende poetische Texte mitgebracht.

Ein Heinz-Erhardt-Gedicht über die lästigen Gräten im Fisch signalisiert, dass nicht nur in philosophischen Tiefen gegründelt wird. Doch ernst wird es mit dem Griff nach Texten von Alessandro Ba­ricco. Dieser 1958 geborene italienische Kultautor hat zwei Werke geschrieben, die sich intensiv mit dem Meer als dem Urgrund des Seins beschäftigen: „Oceano Mare“, 2000 in deutscher Übersetzung erschienen, handelt vom Zusammentreffen vier skurriler Typen in einer Pension am Meeresstrand, die angeregte Gespräche führen. Aus diesem Werk liest beziehungsweise rezitiert Stülpnagel drei Texte. Zwei davon handeln von der Unmöglichkeit, das Meer auf einen bestimmten Begriff zu bringen. Man kann höchstens mit ihm umgehen. Jede Festlegung verschwindet wie die Spuren im Sand, die man hinterlässt: „Das Meer betört, das Meer tötet, es ist anrührend und beängstigend, manchmal ist es zum Lachen, manchmal verschwindet es . . . verschlingt Schiffe, verschenkt Reichtümer, es ist weise, es ist sanft, es ist mächtig und unberechenbar. Vor allem aber: das Meer ruft.“

Dass das Meer auch der Urgrund grausamer Prozesse ist, zeigt die Geschichte eines großen „Medusenfloßes“, das von den Rettungsbooten eines gesunkenen Schiffes abgehängt wird. Ein Teil der Besatzung verreckt auf dem Floß, die Letzten beschließen, freiwillig in den Tod zu gehen. Der Chansonklassiker „la mer“ lässt die Zuhörer wieder aufatmen.

Aus Bariccos schmalem Bühnentext „Novecento“ folgt eine Passage mit der Antwort eines Pianisten, warum er auf einem Schiff bleiben will, auf dem er schon geboren wurde. Alles, was der sagenhafte Ozeanpianist braucht, ist ein Klavier.

Die Skepsis gegenüber dem Realitätssinn kommt im Text Hugo von Hofmannsthals „Glück am Weg“ zum Tragen. Der Ich-Erzähler beobachtet für kurze Zeit auf einem Schiff mit dem Fernglas eine Dame, die auf einem anderen Schiff den Weg kreuzt. Dieses Seherlebnis wird zum Auslöser von Assoziationen aller Art. Realität und Fantasie vermischen sich. Der zeitgenössische Dichter Friedhelm Kändler, der dann zu Wort kommt, treibt dagegen ein lustiges, dadaistisches Spiel mit Worten und Mythen. In seinem Gedicht „Tragödie mit Fisch“ verliebt sich ein junger Mann in eine Nixe mit Fischschwanz. Das gemeinsame Kind kommt aber mit einem Hechtschwanz auf die Welt: Sie hat ihn betrogen.

Liebe ist auch nach der Pause das Thema eines Gedichts des Nobelpreisträgers Pablo Neruda. „Die Nacht auf der Insel“ ist voller Sinnlichkeit und Hingabe an den Partner und an die umgebende Natur.

Den Abschluss bildet eine spannende Geschichte von Ray Bradbury, einem Spezialisten für Grusel und Science Fiction. Zwei Freunde sitzen im Keller eines Leuchtturmes, der Nebelhorntöne ausstößt. Das lockt ein dinosaurierhaftes Urwesen an, dessen Alter eine Milliarde Jahre sein dürfte. Es taucht auf und zerstört den Turm, enttäuscht, nach den Signalen des Nebelhorns keinen lebendigen Partner zu finden, und verschwindet wieder.

Nun, das Gruseln der Zuhörer war eher wohlig. Mittlerweile war es dunkel geworden in der Stadtbücherei und man konnte im Lichtkegel die Rezitationskunst des text- und gebärdensicheren Michael Stülpnagel bewundern. Und natürlich die Musik des in Kirchheim wohlbekannten Johannes Weigle. Er vermag, wenn es sein muss, Klavier, Akkordeon und ein Percussion In­strument gleichzeitig zu spielen. Er bleibt aber immer, die Texte unterstützend, im Hintergrund. Ab und zu gibt er ein Zwischenspiel oder kann auch schweigen, wenn der Text für sich spricht.

Das Publikum war hochzufrieden. Wenn es wieder mal ans Meer reisen sollte, wird es diese Wasseransammlung vielleicht mit anderen Augen betrachten.