Kirchheim

Das zweite Skelett entlastet die Werker

Wirtschaft Die Firma „noonee“ hat den Sprung vom Start-up in die Produktion geschafft. Von Iris Häfner

Lars Schilling weist Andreas Schwarz in den Umgang mit dem Chairless Chair ein.  Foto: Markus Brändli
Lars Schilling weist Andreas Schwarz in den Umgang mit dem Chairless Chair ein. Foto: Markus Brändli

Die ersten Schritte sind noch etwas unsicher, sie erinnern leicht an einen ungelenken Robotergang. Doch Andreas Schwarz, Fraktionsvorsitzender der Grünen im Landtag und Abgeordneter des Wahlkreises Kirchheim, gewöhnt sich schnell an das „bewegliche Gestell“ - korrekt Chairless Chair genannt. Die Schritte werden runder. Doch die nächste Herausforderung wartet schon: das Hinsetzen ins gefühlte Nichts. Damit das besser gelingt, steht Lars Schilling, Geschäftsführer der Firma „noonee“ als eine Art psychologische Stütze hinter ihm, um dem Politiker ein entsprechend sicheres Gefühl zu geben. Das funktioniert: Ein kleiner Hebel auf Höhe des Oberschenkels wird bewegt und damit die Mechanik zum Einrasten aktiviert. Der Proband verlagert vorsichtig das Gewicht nach hinten - und findet sich plötzlich gestützt in einer Sitzposition.

Eine spielerische Spinnerei? Weit gefehlt. Bei „noonee“ handelt es sich um ein Start-up-Unternehmen mit Sitz in Deizisau. Der Kirchheimer Lars Schilling ist der Geschäftsführer. Seine Aufgabe: Das Start-up zu industrialisieren. „Gute Ideen gibt es viele. Aber viele Start-ups scheitern, weil die Professionalität fehlt“, sagt Lars Schilling. Entscheidend für einen dauerhaften Erfolg seien die Basics - also Preislisten, Buchhaltung und dergleichen. „Das Ziel muss sein, so schnell wie möglich kein Start-up zu sein und professionell zu werden. So kann ich feststellen, ob sich die Idee vermarkten lässt und Geld verlangen für meine Leistung“, erklärt Lars Schilling. Viele Start-ups würden scheitern, weil sie das Produkt zu perfekt entwickeln wollen. Wichtig sei deshalb, sich wohlgesonnene Leute zu suchen, die einem hilfreich unter die Arme greifen, praxisnahes Know-how vermitteln und ihre Kontakte und das Netzwerk spielen lassen. „Das Netzwerk ist neben dem Geld der entscheidende Faktor. Dazu kommt noch die Wissensvermittlung: Was gibt es für Förderprogramme in Brüssel oder in Baden-Württemberg? Das sollte einem schon in der Ausbildung oder im Studium vermittelt werden“, fordert Lars Schilling.

„Eine tolle Start-up-Kultur gibt es in Israel. Die hauen eine Idee nach der anderen raus und ein Industrialisierer macht dann weiter“, erklärt der Geschäftsführer und kommt gleich auf ein weiteres - möglicherweise speziell schwäbisches Problem zu sprechen: das Scheitern. In anderen Ländern herrscht diesbezüglich eine andere Mentalität. „Scheitern ist nicht schlimm. Aus Fehlern lernt man, denn die Leute sind ja nicht dumm“, wirbt Lars Schilling für mehr Selbstbewusstsein bei solch einer Niederlage und stößt damit bei Andreas Schwarz auf offene Ohren. „Wir wollen Mut machen und gute Ideen zum Reifen bringen. Das Landesprogramm mit dem Wagniskapital-Fonds unterstützt solche Projekte“, so der Politiker.

„Wer nicht jünger wird, muss klüger werden“, lautet das Motto von noonee. Damit trägt die Firma sowohl dem demografischen Wandel als auch der Gesundheit Rechnung. In den nächsten zehn Jahren wird sich der Anteil der Mitarbeiter über 50 Jahren verdoppeln und mit dem Alter steigen die Arbeitsunfähigkeitstage. Diesem Rechenbeispiel will das Start-up-Unternehmen mit seinem Chairless Chair ein Schnippchen schlagen. „Es gibt Firmen, die legen Wert auf die Gesundheit ihrer Mitarbeiter, optimieren die Arbeitsplätze mit Lichtbändern - und andere sind immer noch unterwegs wie in der Hammerschmiede“, zeigt Lars Schilling die Differenzen auf.

Bewusst ist seine Firma (noch) ausschließlich in Industrie- und Logistikhallen aktiv. Zu den Kunden zählen unter anderem Daimler, Airbus, Festo oder Kärcher. Etwa 7,3 Millionen Menschen sind im produzierenden Gewerbe tätig, Lars Schilling nennt sie Werker. Pro Jahr entstehen laut Zahlen von noonee 17,7 Milliarden Euro Produktionsausfallkosten und 125 Millionen Arbeitsunfähigkeitstage. „Massive Investitionen in ergonomische Arbeitsplätze sind zunehmend erforderlich und gefordert“, ist der Geschäftsführer überzeugt.

Dabei will die Erfindung helfen. Der Chairless Chair lässt sich individuell in der Höhe einstellen - wichtig für einen Zwei-Meter-Mann wie Andreas Schwarz - und unterstützt bei sitzenden Tätigkeiten. Dabei bleibt die Muskulatur aktiv und die Gelenke werden entlastet. „Acht Stunden Stehen ist das neue Rauchen. Es gibt venöse Erkrankungen. Die Wahrheit liegt im Wandel“, sagt Lars Schilling. Der Chairless Chair ist noch mal ein Skelett. Mit ihm kann der Werker gehen, stehen und sich wie auf einen Stuhl absetzen. Die Bewegungsfreiheit begeistert Andreas Schwarz, er wagt sogar zu schunkeln, als er ein imaginäres Radio anmacht.

Zwei bis drei Wochen dauert es, bis sich die Werker an den Stuhl gewöhnen, mehr als zwei Stunden am Tag sind anfangs nicht drin. „Das ist wie ein Trainingsprozess im Sport. Durch die veränderten Abläufe gibt es Muskelkater“, erklärt Lars Schilling. Deshalb coachen er und seine Mitarbeiter ausgewählte Werker, die dann ihre Kollegen an den Chairless Chair gewöhnen.