Kirchheim

Der Alltag ist keineswegs alltäglich

Stadtbücherei Jörg Wenzler und das Klinghoff-Duo präsentieren im beliebten Kirchheimer Sommerprogramm „Abenteuer Alltag oder der ganz normale Wahnsinn“. Von Ulrich Staehle

Glücklich, wer eine Karte für den zweiten und letzten Termin des Sommerprogramms der Stadtbücherei ergattern konnte.Foto: Carste
Glücklich, wer eine Karte für den zweiten und letzten Termin des Sommerprogramms der Stadtbücherei ergattern konnte. Foto: Carsten Riedl

Büchereileiterin Ingrid Gauss steht an der Eingangstür und muss die Interessenten, die noch keine vorbestellten Karten haben, vertrösten: Es gibt keine Plätze mehr. Das beliebte Sommerprogramm „Text und Töne“, das den Daheimgebliebenen angeboten wird, hat nur für eine begrenzte Anzahl von Besuchern Platz. Umso bedauerlicher ist es, dass nur noch zwei und nicht mehr drei Veranstaltungen angeboten werden.

Wer eine Karte ergattert hat, erlebt für den „Text“ den Rezitator Jörg Wenzler, für die „Töne“ das Ehepaar Klinghoff, sie mit der Querflöte, er an der Gitarre. Bei den Texten stellte sich heraus, dass in der Literatur der Wahnsinn im Alltag ganz „normal“ ist. Sie wirken absurd und grotesk, sowohl bedrückend als auch humorvoll. Man wundert sich, dass dieser Stil auch bei Autoren zu finden ist, bei denen man es nicht vermutet, zum Beispiel bei dem weltbekannten Kinder- und Jugendbuchautor Michael Ende. Seine „Ballade vom unnützen Leben des Jonathan Gilb“ prangert einen Menschen an, der sich im Leben vor lauter Skrupeln zu nichts entscheiden kann, bis sein Leben „vergilbt“. Oder die „Ballade vom Seiltänzer Felix Fliegenbeil“, dessen Kunstfertigkeit und Ehrgeiz sein Seil immer mehr verschwinden lassen, bis er mit seinen Künsten schwerelos zwischen den Sternen am Himmel tanzt.

Weitere Überraschungen sind Texte von Gustav Meyrink, von Hause aus Schauspieler, über einen „Tausendfüßler“, der durch eine neidische Kröte zu vielem Nachdenken über seine Beine angestoßen wird und dadurch seine Bewegungsfähigkeit verliert. Oder vom Filmautor Marcel Valmy über einen „zerstreuten Professor“, der noch zu Lebzeiten an seiner eigenen Beerdigung teilnimmt. Handfester und realistisch ist Helmut Karaseks „Für die Katz“, eine Abrechnung mit seinem aufgezwungenen Spinat- und Lebertrankonsum in der Kindheit. Eine Satire von Heinrich Böll („Unberechenbare Gäste“) setzt den Schlusspunkt vor der Pause: eine Familie versinkt in ihrer Menschen-und Tierliebe. Ihr Haus gleicht der Arche Noah.

Danach wird das Thema „Liebe“ angekündigt, die es schließlich auch im Alltag gibt. Wie gut, dass Rezitator Wenzler schwäbisch von einem schönen Mädchen im „Bobbsrwald“ erzählen kann. Nächste Überraschung: Erich Fried, der politische Lyriker, hat auch Liebesgedichte geschrieben. Doch dass er auch Sprachspielereien mit Silben und Buchstaben in Dada-Manier in einem Liebesgedicht („Leilied bei Ungewinster“) betrieben hat, das gilt es zu entdecken. Handfester ist Konstantin Wecker, der den Auszug einer Frau aus kleinbürgerlicher Ehe erzählt und auch Curt Goetz, der die „Tücke des Objekts“ illus­triert durch endlose Wiederholungen bei der Aufnahme einer läppischen Filmsequenz.

Die Grotesken mit ihren skurrilen Übertreibungen und Absurditäten machten den Zuhörern einen so großen Spaß, dass sie noch zwei Zugaben, eine vom Traumstadtdichter Althaus und eine von W. Busch herausklatschten. Dieses Vergnügen konnte nur durch die Qualität der Darbietung entstehen. Rezitator Jörg Wenzler liest die Texte „ aus dem Bauch heraus“.

Trotzdem oder vielleicht auch gerade deshalb gewinnen sie eine musikalische Leichtigkeit. Seine musikalischen Partner stehen ihm in nichts nach. Auf ihrer goldenen Flöte bietet Reinhilde Klinghoff-Kuhn wahrhaft Meisterliches. Zurückhaltend, aber ebenso meisterlich begleitet Werner Klinghoff auf der Gitarre.

Die beiden Musiker greifen auf Komponisten wie Telemann oder auf weltbekannte Gitarristen wie Machado und Puyol zurück. Jedes Zwischenspiel korrespondiert mit dem vorangegangenen Text, mal heiter, mal ernst, elegisch oder tänzerisch.