Kirchheim
Der Blick ins Flüchtlingslager macht sprachlos

Erfahrung Im Mittelpunkt des Dokumentarfilms „Nasim“ steht das Leben von Nasim Tajik im Flüchtlingslager Moria. Die Vorstellung mit Nachgespräch im Tyroler Kino in Kirchheim war ausverkauft. Von Peter Dietrich

Für eine Woche wollten die beiden Dokumentarfilmer Arne Büttner und Ole Jacobs ins griechische Flüchtlingslager Moria reisen. Sie wollten sich dort ein eigenes Bild von der Situation machen und für die Rosa-Luxemburg-Stiftung eine kleine Dokumentation drehen. Stattdessen bleiben sie spontan zehn Monate dort, ließen sich Material nachsenden und kehrten mit rund 120 Stunden Aufnahmen heim. Daraus entstand der Film „Nasim“ über Nasim Tajik, die samt Familie aus Afghanistan floh und in Moria strandete. Es gibt eine 85-Minuten-Fassung und eine 120-Minuten-Langfassung. Auch das ZDF hat den Film gezeigt.

Nasim Tajik war gerade drei Wochen im Lager, als sie den beiden Dokumentarfilmern begegnete. „Wir haben alle drei das gleiche Ziel gehabt“, sagt sie. „Wir wollten der Welt zeigen, dass wir in Schwierigkeiten stecken.“ Die Dokumentarfilmer waren schockiert, was sie mit eigenen Augen zu sehen bekamen. „Wir haben nicht für möglich gehalten, dass das in der EU passieren kann“, sagt Arne Büttner zu den Zuständen im Lager.

Der Film hat keinen Offline-Kommentar. „Uns war es wichtig, Nasim ihre Geschichte selbst erzählen zu lassen“, sagt Ole Jacobs. Die persischen Dialoge mit ihrer Familie sind deutsch untertitelt. Arne Büttner hat 2014 während des Studiums zwei Monate im Iran gelebt und hatte ein paar persische Grundkenntnisse. „Außerdem hatten wir im Lager genügend Zeit, etwas zu lernen. Bei den gefilmten Dialogen wussten wir, worum es geht.“

 

„Wir haben nicht für möglich gehalten, dass das in der EU passieren kann.
Arne Büttner
Der Filmemacher über die Zustände in Moria

 

Nasim Tajik war auch bei der Postproduktion des Films betei­ligt. Sie hatte mit ihrer Familie das Glück, in ein Kontingent von rund 1500 Flüchtlingen aufgenommen zu werden, die nach Deutschland durften. „Ich bin mit dem Film sehr zufrieden“, sagt sie. „Er zeigt das, was ich zeigen wollte. Ich habe gefühlt, dass ich zuständig bin für die anderen, die ebenfalls leiden, ich muss das machen. Ich will nicht, dass die Zuschauer traurig werden. Ich will Menschen motivieren, etwas für Flüchtlinge zu tun, auch für solche, die in Deutschland untergebracht sind, die die Sprache nicht kennen.“

Die Dokumentarfilmer haben die Bewohner des Lagers im Alltag begleitet, beim Wäschewaschen, beim Sport und „Hausbau“. Mit der Zeit und vielen Tassen Tee wuchs das Vertrauen. Dass Nasims Ehe mit dem Mann, mit dem sie mit 13 Jahren in Afghanistan zwangsverheiratet wurde, zerrüttet ist, wird im Film sehr deutlich, genauso wie die liebevolle Beziehung zu ihren beiden Söhnen.

Die teils meditative Ruhe des Films verbirgt die Probleme, mit denen die Produktion zu kämpfen hatte. „Es ist sehr schwierig, in Griechenland Dokumentarfilme zu machen“, sagt Arne Büttner. „Es werden regelmäßig Journalisten festgenommen.“ Doch das Chaos im Lager erschwerte Kontrollen, und Nasim Tajik lebte auf privatem Grund außerhalb des Lagers, in einer rechtlichen Grauzone. Die Pandemie brachte weitere Einschränkungen, teils einen Lockdown nur für das Lager, nicht für die ganze Insel. Die Ruhe der Bilder kommt auch von der schweren, auf der Schulter getragenen Kamera – um unauffälliger filmen zu können, hätten sich die Dokumentarfilmer aber oft ein kleineres Exemplar gewünscht.

Der Film zeigt auch den nächtlichen Brand, bei dem das alte Lager Moria komplett zerstört wurde. Die Feuerwehr kam erst am frühen Morgen, die zwei Löschflugzeuge auf Lesbos erst mittags. Der Film endet mit dem Aufbau des neuen Lagers, in dem Nasims Familie nochmals rund ein halbes Jahr verbrachte.

Kein Dreh im neuen Lager

Dieses Ende ist unfreiwillig: Zwei Monate lang haben die beiden Dokumentarfilmer versucht, auch im neuen Lager zu drehen, mit immer wieder neuen Ansätzen. Doch es war nicht erwünscht, es gab im Lager keinen offenen Pressezugang, und nun konnte – anders als im früheren Chaos – sehr gut kontrolliert werden. Neue Gesetze verboten auch die Bildproduktion durch Geflüchtete.

 

Eine Tour durch 33 Städte

Kirchheim war eine der letzten Stationen der Kinotour, die den mehrfach ausgezeichneten Film in 33 Städte brachte. „In Berlin war zweimal ausverkauft, in Hamburg auch“, sagte Ole Jacobs kurz vor der Kirchheimer Aufführung. Das Duo war gespannt, wie es nach einer mittelmäßig besuchten Vorstellung in Stuttgart in einer kleineren Stadt sein würde.

Das kleine Kino Tyroler war dann ebenfalls ausverkauft, rund zehn weitere Besucher verfolgten den Film auf einem Monitor im Foyer. Alle blieben zum Nachgespräch mit Nasim Tajik und den beiden Filmemachern. Angestoßen hatte die Kirchheimer Vorführung der Rosa-Luxemburg-Club Kirchheim. Schnell kamen der AK Asyl Kirchheim, das Flüchtlingscafé Chai, die lokale Amnesty-Gruppe, attac Kirchheim, die Linke, ver.di und der DGB Kreis Esslingen als Mitveranstalter hinzu. pd