Kirchheim

Der Buchstabensalat hat ein Ende

Therapie Heißt es „Mutter“ oder „Muter“? Der Verein „Blickwechseln“ hilft Menschen mit Lese-, Rechen- oder Schreibschwäche in ganz Baden-Württemberg. Von Melissa Seitz

Spielerisch lernen die Kinder bei Angelika Schedel sprechen, schreiben und rechnen.Foto: Carsten Riedl
Spielerisch lernen die Kinder bei Angelika Schedel sprechen, schreiben und rechnen. Foto: Carsten Riedl

Er hat Abitur, ist Medizinstudent, möchte irgendwann als Facharzt Menschen helfen - und er hat eine Leseschwäche. Wenn er Texte vorliest, liest er fließend, aber versteht den Inhalt nicht. „So etwas kommt nicht selten vor“, erklärt Angelika Schedel vom Verein „Blickwechseln“, in dem Menschen mit Lese-, Rechen- und Schreibschwäche Hilfe finden. „Er hat alles auswendig gelernt und war an einer Schule, an der viel mündlich gemacht wurde“, erklärt sie. „Solche Menschen haben ein phänomenales Gedächtnis.“ Doch irgendwann stand er bei ihr auf der Matte. Genug gelogen, genug durchgemogelt, jetzt war es Zeit, das Problem in den Griff zu bekommen.

Angelika Schedel hat im Kirchheimer Büro - einem von insgesamt acht in Baden-Württemberg - mit unterschiedlichen Menschen zu tun. Manche verstehen das, was sie lesen, aber können es nicht aussprechen. Andere haben Schwierigkeiten, Laute in Schrift zu packen. Oder sie haben das gleiche Problem wie der Medizinstudent.

„Ein Schreib-Gen gibt es nicht“

Wieso sind manche richtige Leseratten und andere nicht? Gibt es dafür eine Veranlagung? „Natürlich gibt es kein Schreib- oder Rechen-Gen. Man kann aber feststellen, welche Teile des Gehirns mit so einer Schwäche zusammenhängen“, weiß die Diplom-Pädagogin. Wenn man zum Beispiel von der Tafel abschreiben soll, macht das Auge Sprünge. Das Gehirn merkt sich die Worte in Etappen. „Ein Kind mit einer Leseschwäche braucht mehrere Sprünge“, erklärt die Expertin. Die Vernetzung im Gehirn funktioniert nicht richtig.

Eine Deutschklausur zu schreiben, kann damit für viele Kinder zum Albtraum werden. Doch das muss es nicht. „Der Lehrer kann zum Beispiel die Diktatnote weglassen“, erklärt Angelika Schedel. „Und falls das Kind bei einem Therapeuten ist, kann er die Klausur erstellen. Dann gibt es anstatt einem Diktat halt nur einen Lückentext.“ Der Tipp der Expertin: Kinder schon früh mit Sprache in Kontakt bringen - aber nicht nur mit Tablet, Handy und Co. „Wenn die Mutter ihrem Kind aus einem Buch vorliest, fördert sie damit die Liebe zur Sprache“, erklärt Angelika Schedel. Natürlich kann man ab und zu eine Kassette anhören. „Aber viele Eltern kennen das: Ihr Kind will immer und immer wieder nur diese eine Kassette hören, und man selbst kann die Geschichte schon in- uns auswendig“, scherzt die Sprach-Expertin.

Sich selbst das Schreiben oder Lesen beibringen, davon rät Angelika Schedel ab. „Auch der Ehemann sollte es sich nicht zur Aufgabe machen, seiner Frau zu zeigen, wie man liest“, warnt die Diplom-Pädagogin. Das mache die Beziehung kaputt. Denn hinter der Schwierigkeit mit der Sprache stecken oft psychische Probleme.

„Wer nicht rechnen kann, ist blöd“

Und was ist mit der Rechenschwäche - also der Dyskalkulie? „Wenn jemand nicht rechnen kann, heißt es oft, der ist dumm oder der kann einfach nicht logisch denken“, erzählt Angelika Schedel. Doch auch eine Rechenschwäche kann man therapieren.

Mehr Informationen zu diesem Thema gibt es im Internet auf www.blickwechseln.de

„Hilfe, mein Kind kann nicht richtig lesen“

Beobachten: „Eltern kennen ihre Kinder am besten“, davon ist Angelika Schedel überzeugt. „Sie merken schon sehr früh, dass ihr Kind beispielsweise Probleme mit der Sprache hat.“ Eine Lese-, Rechtschreib- oder Rechenschwäche erkennt man laut der Expertin schneller, wenn es ältere Geschwister in der Familie gibt. „Dann hat man den direkten Vergleich und sieht, wie das jüngere Kind sich im Gegensatz zum älteren entwickelt“, erzählt sie. Wer ein Einzelkind hat, sollte einen Blick auf die Entwicklung der gleichaltrigen Freunde werfen.

Untersuchen: Wenn sowohl den Eltern und Therapeuten als auch den Lehrern oder Erziehern klar ist, dass irgendwas mit dem Kind nicht stimmt, sind ärztliche Untersuchungen unumgänglich. Ist das Auge genau so beweglich wie bei anderen Kindern? Müssen die Augenmuskeln trainiert werden? Und was ist mit den Ohren? Leidet das Kind an einer Geräuschüberflutung? Kann es sich deshalb so schlecht konzentrieren? „Man muss herumexperimentieren, bis klar ist, was mit dem Kind eigentlich los ist“, sagt Angelika Schedel.

Therapieren: Mit der Diagnose geht es zum Therapeuten. Nach und nach wird zum Beispiel die Leseschwäche aus dem Weg geräumt. „Dabei beseitigen wir Stolpersteine, die dem Kind Probleme bereiten, und bauen sie nach und nach wieder ein - zum Beispiel bei Diktaten“, erklärt die Pädagogin. Wichtig sei es, mit Erfolgserlebnissen zu arbeiten. Nur so hat das Kind den Willen, weiterzumachen. „Eineinhalb bis zwei Jahre Therapie reichen aus, und das Kind kann wieder lesen“, erklärt Angelika Schedel. Bei Erwachsenen dauert es länger.sei