Kirchheim
Der CDU-Abgeordnete Michael Hennrich sagt der Politik Adieu

Erneuerung Nach zwei Jahrzehnten Bundestag möchte der Kirchheimer CDU-Mann in Berlin Platz für Junge machen. – Zumindest vorübergehend verliert der Wahlkreis einen seiner vier Vertreter in der Hauptstadt. Von Irene Strifler

Es ist fast 20 Jahre her: Am Sonntag, 22. September 2002, krabbelte der kleine Paul durch den Raum der CDU-Wahlparty und verkündete: „Heute ist Bundestag!“ Wohl wahr: Für seinen Vater Michael Hennrich brachte dieser Abend die Fahrkarte nach Berlin, mit 45,6 Prozent der Erststimmen holte der junge Rechtsanwalt das Direktmandat für seine Partei.

Paul ist längst erwachsen und feilt an seiner Master-Arbeit. Sein Vater zählt mittlerweile zu den dienstältesten Abgeordneten seiner Fraktion im deutschen Parlament. Und die CDU? Ist wieder dort angekommen, wo sie bei Hennrichs Start vor zwei Jahrzehnten stand: in der Opposition.

Nach 16 Jahren Merkel wieder zurück ins Glied zu müssen, kann keinem leichtfallen. Von ehemaligen Ministern und Ministerinnen
 

Die Ära Merkel und ihr Politikstil,
der auch meiner war, sind vorbei.
Michael Hennrich

hört man, wie sie sich schwertun mit ihrer neuen Rolle. Auch Hennrich hatte es zu einem renommierten Gesundheitspolitiker gebracht. Kaum ein „Ärzteblatt“ erschien bis vor Kurzem ohne seinen Namen. Das „AMNOG“, das Arzneimittelneuordnungsgesetz von 2011, ist nicht nur fraktionsübergreifend und in Fachkreisen gelobt und geschätzt, es ist auch weitgehend Hennrichs „Baby“. „Hier konnte ich endlich praktisch und sinnvoll anwenden, was ich im Studium gelernt hatte“, freut sich der Jurist, in seiner Politikerlaufbahn sinnvolle Spuren hinterlassen zu haben. Dass ihm dies gerade im schwierigen Feld der Gesundheitspolitik gelingen würde, war nicht abzusehen, als er sich 2001 bei der Kandidatenkür gegen vier weitere Bewerber durchsetzte. Ein verdienter Kollege habe ihm geraten, ein guter Bundestagsabgeordneter solle sich da auskennen, wo die Bevölkerung der Schuh drückt, erzählt er. Zufrieden betont er: „Ich würde mich wieder so entscheiden“, und ergänzt: „In diesem Sektor ist man als Politiker auch gut resozialisierbar.“

Das könnte für die verbleibenden Berufsjahre ein wichtiger Punkt werden. Hennrichs Credo lautet nämlich: „Opposition ist die Zeit der Erneuerung.“ Damit zitiert er niemand anderes als seinen Amtsvorgänger Elmar Müller, der nicht nur Hennrichs Mentor war, sondern auch sein Idol ist. Auch Müller hatte sich mit damals 60 Jahren aus der Politik zurückgezogen, um nach einer gewissen Pause beruflich noch mal durchzustarten.

Schon bei der vergangenen Wahl hatte Hennrich gesagt, dass dies seine letzte Legislaturperiode sein werde. Dass er sie nur zum Teil erfüllt, ist die Überraschung dabei. „Ich will noch mal was Neues machen“, sagt der 57-Jährige, der auf Übergangsgeld und Ähnliches verzichtet. Der Wahlkreis werde dies verschmerzen, auch wenn per Gesetz nun im Bundestag der nächste Mensch auf der Liste nachrücke, und der ist nun mal aus Heidelberg. Doch zum einen bleiben dem Wahlkreis drei der bislang vier Bundestagsabgeordneten erhalten, meint Hennrich. Vor allem aber lägen die Chancen im Generationenwechsel: „In jedem Stadtverband hier gibt es gute junge Leute!“

Die wird seine Fraktion auch brauchen. Zum einen will man die Macht zurückerobern, zum anderen sind die Zeiten nicht einfacher geworden. Als Höhepunkt der politischen, aber auch gesellschaftlichen Stimmung gilt für Hennrich die Zeit des Sommermärchens: Fußball-WM 2006. „Weltoffen, tolerant und gastfreundlich“ habe sich Deutschland präsentiert, meint der Fußball-Fan. Danach kamen massive Probleme, die Eurokrise, die Flüchtlingskrise, die Corona-Krise, der Ukraine-Krieg … 2015 in der Flüchtlingskrise seien massive Ängste aufgebrochen, die die Gesellschaft gespalten hätten. Während in der ersten Phase der Corona-Krise die Politik durchaus plötzlich von weiten Teilen der Bevölkerung wertgeschätzt wurde, hätten sich die massiven Verwerfungen in der später Gesellschaft fortgesetzt. „Wir haben längst eine Krise der demokratischen Institutionen, eine Legitimationskrise“, meint Hennrich. Er findet, der Staat vernachlässige seine Autorität.

Sich selbst sieht er selbstkritisch als Vertreter der alten Politikergeneration. „Die Ära Merkel und ihr Politikstil, der auch meiner war, sind vorbei“, bilanziert er und bedauert, dass Politik als das stilvolle Ringen um gute Lösungen in respektvollem Umgang immer weniger möglich sei.

Auf die junge Generation kommen also große Aufgaben zu. Doch Hennrich ist zuversichtlich. Als VfB-Anhänger weiß er mit Krisen umzugehen. Dass er in einer Familie mit drei Arminia-Bielefeld-Fans lebt, gibt ihm derzeit Oberwasser: „Die müssen sich jetzt auch schleunigst erneuern“, lautet sein Ratschlag an die frisch abgestiegene Truppe und ihre Anhängerschaft. Opposition und zweite Bundesliga weisen Gemeinsamkeiten auf: Sie sind die Zeit der Erneuerung. 

Den Wahlkreis Nürtingen, zu dem Kirchheim zählt, gibt es seit 1965. In diesen knapp 60 Jahren ging das Direktmandat stets an die CDU, die insgesamt drei verschiedene Abgeordnete stellte:
ab 1965: Anton Stark
ab 1990: Elmar Müller
ab 2002: Michael Hennrich 

Berufswunsch: Oberbürgermeister

„Oberbürgermeister!“, lautet die spontane Antwort von Michael Hennrich auf die Frage nach seinem ursprünglichen Berufswunsch. Und zwar nicht einfach irgendwo Oberbürgermeister, sondern in Kirchheim. Dass er es ernst meinte, bewies er schon als Jurastudent: Ein Praktikum in Chicago schlug er in den Wind zugunsten eines Praktikums im Rechtsamt im Kirchheimer Rathaus. – Sehr zum Spott seiner Kommilitoninnen und Kommilitonen.

Die Chance, seinem eigentlichen Berufsziel einen großen Schritt näherzukommen, hätte sich im Jahr 2000 geboten: Heinz Eininger, seit 1992 als Bürgermeister in der Großen Kreisstadt tätig, wechselte auf den Posten des Esslinger Landrats, den er seither bekleidet. Doch häufig kommt es anders als man denkt: Statt die Karriereleiter im Kirchheimer Rathaus zu erklimmen, eroberte Hennrich die Position des CDU-Bundestagsabgeordneten im Wahlkreis Nürtingen als Nachfolger von Elmar Müller. Man munkelt, dass ihm die spontane Zustimmung seiner Frau Anja die Entscheidung seinerzeit leicht gemacht habe.

Oberbürgermeister von Kirchheim ist Michael Hennrich zwar nie geworden, der Stadt ist er jedoch als Bürger immer treu geblieben, und das soll auch im politischen Ruhestand so bleiben. ist