Kirchheim

Der lange Weg zum Ausweis

Behinderungen sollen künftig nicht mehr allein medizinisch beurteilt werden

Jeder achte Einwohner im Landkreis gilt als behindert. Mitunter wird Kritik laut, dass die Behörden zu großzügig Schwerbehindertenausweise ausstellen.

Die Idee ist: Der Schwerbehindertenausweis soll Nachteile, die Menschen mit Behinderungen haben, wenigstens ein bisschen ausglei
Die Idee ist: Der Schwerbehindertenausweis soll Nachteile, die Menschen mit Behinderungen haben, wenigstens ein bisschen ausgleichen.Foto: Carsten Riedl

Kreis Esslingen. Der Landkreis Esslingen zählt rund 520 000 Einwohner. Unter ihnen wurden, Stand Anfang Mai, 40 740 Schwerbehindertenausweise ausgegeben, mit einem Grad der Behinderung (GdB) von mindestens 50 Prozent. Von diesen Ausweisen sind derzeit rund 37 500 gültig, die anderen müssten verlängert werden. Hinzu kommen mehr als 22 000 Menschen mit einem GdB von 20 bis 40 Prozent, gewertet wird immer in Zehnerschritten. Es gibt also im Landkreis rund 63 000 Menschen, die als behindert gelten. Das ist immerhin jeder achte Einwohner im Kreis.

„Wir bewerten die Funktionseinschränkung“, sagt Alexander Seitz, Sachgebietsleiter im Landratsamt. Manchmal ist die Situation eindeutig, etwa wenn jemand ein Auge verloren hat. Auf der anderen Seite kann sich eine identische Beeinträchtigung bei verschiedenen Menschen unterschiedlich auswirken: So sind zum Beispiel nicht alleine die Beine entscheidend, sondern auch das Körpergewicht. Einschränkungen, die für das Alter typisch sind, werden nicht berücksichtigt, auch vorübergehende Gesundheitsstörungen nicht.

Im Vorjahr gingen im Landratsamt mit Erstanträgen und Neufeststellungen fast 10 000 Anträge ein, um die sich 15 Sachbearbeiter kümmern. Sind alle medizinischen Unterlagen vollständig, dauern das Aktengutachten des Gesundheitsamts und der Bescheid etwa zwei Wochen. Weil die Kapazitäten des Gesundheitsamts nicht reichen, beauftragt dieses auch externe Gutachter. Körperliche Begutachtungen sind aber sehr selten, sie gibt es vor allem bei Gehbehinderungen. In mehr als 99 Prozent aller Fälle, sagt Seitz, seien sich Gesundheitsamt und Landratsamt einig. Nachfragen und Diskussionen seien „absolute Ausnahmen“.

„In der Regel fehlen aber Unterlagen, oder sie sind nicht geeignet“, sagt Seitz. Deshalb dauere das Verfahren im Durchschnitt drei Monate. Seitz hat Verständnis dafür, dass für die Ärzte Behandlungen vorgehen. „Manche Ärzte machen das samstags, wenn die Praxis zu ist.“

Bei den 3 409 Erstanträgen im Jahr 2015 hat das Landratsamt in 1 844 Fällen, also gut der Hälfte, einen Schwerbehindertenausweis ausgestellt. Die anderen Bescheide reichten von einem GdB von 40 Prozent bis hinunter zu null. Menschen mit einem Behinderungsgrad von 30 oder 40 Prozent können mit Schwerbehinderten gleichgestellt werden, etwa wenn ihnen der Verlust des Arbeitsplatzes droht. In diesem Fall spricht die Agentur für Arbeit die Gleichstellung aus, es gibt aber deshalb keinen Schwerbehindertenausweis.

Wer keinen Ausweis erhält, oder nicht das erwünschte Merkzeichen (siehe Infokasten), kann Widerspruch einlegen. Das taten im Jahr 2015, bei Erstanträgen und Neufeststellungen zusammen, gut 18 Prozent der Antragsteller. Dann gehen die Akten im Landkreis Esslingen – das ist bundesweit nicht überall so – im Landratsamt an einen anderen Sachbearbeiter und im Gesundheitsamt an einen anderen medizinischen Gutachter. Gibt es dann keinen Abhilfebescheid, werden die Akten im Regierungspräsidium von einer weiteren Person gesichtet und von einem dritten Gutachter bewertet.

Bei einer Ablehnung des Widerspruchs kann der Antragssteller beim Sozialgericht Stuttgart klagen, kostenfrei und ohne Anwaltspflicht. Genaue Zahlen dazu werden gerade erfasst, die Schätzung des Landratsamts liegt bei vier Prozent der Anträge. Etwa jede zweite Klage wird zurückgenommen, sehr oft gibt es einen außergerichtlichen Vergleich. So kann es sein, dass sich der gesundheitliche Zustand während des Verfahrens verschlechtert hat. Formal geht es zwar um die Entscheidung zum damaligen Zeitpunkt, aber das Landratsamt sieht das pragmatisch.

Wie schätzt Alexander Seitz persönlich die derzeitige Praxis ein? „Das ist angemessen“, sagt er. „Manche sagen, das geht zu weit, jeder achte Mensch mit einer Behinderung, das war früher nicht so.“ Seitz findet auf der anderen Seite auch nicht, dass die Einstufung zu streng gehandhabt wird. Doch ihm ist zugleich klar: „Viele empfinden das anders, wenn sie selbst betroffen sind.“