Kirchheim
Der persönliche Kontakt löst manches Vorurteil in Luft auf

Vielfalt Zum Internationalen Tag gegen Homo-, Bi-, Inter- und Transphobie haben GEW und die Linke zu einem Onlinegespräch über Vielfalt an Schulen eingeladen. Von Peter Dietrich

Seit 2005 wird der 17. Mai als Internationaler Tag gegen Homophobie, Biphobie, Interphobie und Transphobie begangen. Ulrich Haussmann aus Kirchheim, der sich für die Rechte von Homosexuellen einsetzt, hatte den Kirchheimer Stadträten vorgeschlagen, an diesem Tag die öffentlichen Gebäude mit Regenbogenfahnen auszustatten. Daraus wurde nichts, doch der Kreisverband Esslingen-Nürtingen der GEW und die Kirchheimer Linke griffen seine Anregung auf und luden stattdessen zu einem zweistündigen Onlinegespräch ein. Doch trotz intensiver Werbung, auch schriftlich an alle Kirchheimer Schulleitungen, waren nur zwölf Teilnehmer dabei, inklusive der Moderatoren Hans Dörr und Heinrich Brinker.

Queere Jugendliche? „Das gibt es bei uns nicht“, hat die systemische Beraterin Carina Utz schon von mancher Schulleitung gehört. Doch die Leiterin des Freiburger Bildungsvereins „Fluss“ weiß, dass so eine Aussage gegen jede Wahrscheinlichkeit ist. „Statistisch gesehen gibt es in jeder Klasse ein bis drei queere Jugendliche“, sagt sie. „Queer“ ist ein Sammelbegriff: Dazu gehören neben Homosexuellen, Lesben und Bisexuellen auch Menschen, die sich in dem bei ihrer Geburt zugeschriebenen Geschlecht nicht zu Hause fühlen (trans) oder die sich bei ihrer Geburt anhand der Geschlechtsmerkmale nicht eindeutig als Junge oder Mädchen zuordnen ließen (inter). Von den Teilnehmern wurde nicht erwartet, dass sie diese Themen seit Jahren diskutieren und alle Begrifflichkeiten schon kennen. Deshalb wurde alles allgemeinverständlich besprochen.

Manche Schüleräußerung war erschreckend. „Wäre ich der Herrscher von einem Land, würde ich euch alle töten“, sagte ein Elfjähriger, der neben Carina Utz in einer sechsten Klasse saß. „Mich auch?“, fragte ihn Carina Utz, die sich zuvor als Lesbe vorgestellt hatte. Da begann der Junge zu weinen. Der persönliche Kontakt verändere die Einstellung zu einer ganzen Gruppe von Menschen, sagte Dr. Ulrich Klocke von der Humboldt-Universität zu Berlin, der zweite Referent. Er regte an, queere Jugendliche in Workshops von sich berichten zu lassen. Auch der indirekte Kontakt helfe - wenn etwa ein Schüler von seinem Freund oder Bruder erzähle.

Beim Lästern und Beschimpfen von „anderen“ Jugendlichen liegen die Jungs eindeutig vorne. Dies hat für Ulrich Klocke mit der „prekären Männlichkeit“ zu tun, die immer neu zu beweisen sei. „Männer, die als Mann selbstbewusst sind, sind nicht homophob, sie haben das nicht nötig.“ Ulrich Klocke empfiehlt Lehrkräften, bei der Anrede den Wunsch nach einem anderen Vornamen und Pronomen zu akzeptieren - das könne von offiziellen Dokumenten wie dem Zeugnis abweichen. Wenn beispielsweise ein Lehrer gegen Schimpfwörter einschreite, sei das wirksamer, als wenn dies ein Opfer mache. Oft lohne das Hinterfragen: „Weißt du, was dieses Wort bedeutet?“ Je diskriminierender ein Begriff eingeschätzt werde, desto seltener werde er verwendet. „Egal, wie es gemeint ist, was wirklich zählt, ist alleine die Wirkung.“

Der Referent riet den Schulen, eine Kontaktperson für geschlechtliche Vielfalt zu benennen - jemand, mit dem Schüler offen reden können. Wie sehr diese so jemanden brauchen, zeigt aktuell Corona: Der Beratungsbedarf bei „Fluss“ ist stark angestiegen. Queere Schüler haben doppelt so viele Suizidgedanken als andere, unternehmen dreimal so viele Suizidversuche. Sie haben häufiger Depressionen und Angststörungen. Das ist laut Ulrich Klocke auch die Folge häufiger Diskriminierungserfahrungen.

Ulrich Haussmann will auch in Zukunft nicht locker lassen, denkt schon an den 17. Mai 2022. „Kommunal ist das Thema ein absolutes Stiefkind. Das kann man nicht alleine das Land machen lassen.“