Kirchheim
Der Soundtrack des Lebens

Musik Ein Projekt, das tief berührt: „Letzte Lieder, und die Welt steht still“ widmet sich dem Tod. Und zelebriert gleichzeitig das Leben. Drei der Beteiligten erzählen, wie es entstand und was es für sie bedeutet. Von Anja Weiß

Elf Jahre ist es her, dass ein Rechercheauftrag Stefan Weiller in ein Wiesbadener Hospiz geführt hat. „Ich war mit einer Frau verabredet, die erst kurz zuvor dort eingezogen ist“, erzählt er. Er hatte Angst vor dieser Begegnung: Wie spricht man mit einem Menschen, der weiß, dass er nicht mehr lange zu leben hat? Doch dann begann die Frau, aus ihrem Leben zu erzählen - und sie verband diese Geschichten mit Musik.

Stefan Weiller spürte sofort, dass dies etwas Größeres war. Dank der Frau verstand er, „dass Musik eine Brücke in unsere Vergangenheit ist. Wir ankern dort, wo wir einen sicheren Hafen finden.“ Gleichzeitig war es die Initialzündung zum Projekt „Letzte Lieder, und die Welt steht still“, mit dem Weiller Kunst schafft, die tief im wahren Leben verankert ist.Er erzählt dabei frei nach Motiven und seinen Eindrücken aus dem Leben der Sterbenden und verbindet dies mit der Musik, die diesen Menschen wichtig war. Als musikalischen Leiter konnte er den Kirchheimer Bezirkskantor Ralf Sach gewinnen, der zu dieser Zeit ebenfalls in Wiesbaden tätig war. Sach arrangiert die Musik gefühlvoll zu den sensiblen Texten.

Zunächst wurde es mit einem kleinen Ensemble umgesetzt, irgendwann kam eine Band dazu unter der Leitung des Pianisten Kilian Haiber, der in Dettingen lebt. „Für dieses Projekt brauchte ich Leute, die im Leben so gefestigt sind, dass sie den Tod nicht fürchten“, sagt Weiller. Denn eines ist klar: Diese Aufführungen berühren alle zutiefst, Mitwirkende wie Besucher. „Sie gehen anders wieder raus, als sie gekommen sind, mit einem anderen Gefühl für den Tod, aber auch einem anderen Gefühl für das Leben“, das beobachtet Weiller immer wieder. „Nach jeder Aufführung sortiere ich meine Prioritäten und meine Ziele wieder neu“, bestätigt auch der Musiker Sach. „Man beginnt, sich mehr aufs Wesentliche zu konzentrieren“, sagt Haiber.

Es begann mit Cindy und Bert

Dabei sind es oft gar keine tiefgründigen Lieder, die Sterbende mit ihren Lebensepisoden verbinden. Von Bach bis Silbereisen, von Nirvana bis zur Fußballclub-Hymne der Lilien aus Darmstadt: Bei den letzten Liedern gibt es (fast) keine Tabus, alles kommt zur Aufführung. Denn es sind Lieder, die die Menschen mit den bedeutenden Situationen ihres Lebens verbinden, darum gibt es auch kein Richtig oder Falsch. „Das erste Lied war „Immer wieder sonntags“ von Cindy und Bert. Gewiss keine Hochkultur, aber im Kontext eines Lebens dennoch voller tiefer Bedeutung. Eben der „Soundtrack des Lebens“.

Darum können die Konzertbesucher an diesem Abend auch bei einem Lied lauthals lachen und kurz darauf vor Rührung weinen. „Das ist die ganze Bandbreite des Lebens“, sagt Ralf Sach, „und die müssen wir aushalten.“ Nicht der Tod stehe bei dem Projekt im Vordergrund, „wir erzählen Geschichten des Lebens und dabei gibt es Momente des Tanzes und der Beschwingtheit.“ Auch für die Musiker sind solche Abende, trotz aller Arbeit, die darin steckt, etwas ganz Besonderes, denn selten werden in einem Konzert so viele Emotionen ausgelebt wie bei den „Letzten Liedern“. Ergänzt werden die Musiker noch durch Erzähler, und auch hier konnte Weiller viele bekannte Schauspieler gewinnen, genannt seien nur Christoph Maria Herbst, Eva Mattes oder Marianne Sägebrecht.

Viele Gespräche hat Weiller im Lauf der vergangenen Jahre geführt, wie viele kann er gar nicht genau sagen, denn die Zahl ist ihm nicht wichtig. Er hat mit ganz jungen Menschen gesprochen, aber auch mit über 90-Jährigen. Sie alle eint, dass sie bereit waren, sich bis ganz zum Schluss auf etwas Neues einzulassen und sich ihm anzuvertrauen. Diese Begegnung mit Menschen am Ende ihres Lebens hat auch ihm ein wenig die Angst genommen.

Denn oft fragen sie nicht nach dem, was nicht mehr geht, sondern betrachten das, wofür sie dankbar sind. Und es hat ein Stück weit auch eine österliche Botschaft. „Alle Menschen, deren Lieder wir spielen, sind verstorben, aber in dem Moment sind sie dann wieder da.“

Für das Jahr 2020 hatte das Ensemble etliche Buchungen, die meisten mussten wegen ­Corona entfallen. Auch dieses Jahr sind frühestens im Sommer Aufführungen geplant. Stefan Weiller führt seine Gespräche online, das gehe eigentlich ganz gut. Eine „richtige Tragödie“ sei die Zeit im ersten Lockdown gewesen, als Sterbende keinen Besucher mehr empfangen durften. Andererseits verspürt er durch die Krise, dass viele Menschen sich überlegen, was wirklich wichtig ist für sie und in ihrem Leben. Darum hoffen er und seine Mitstreiter, dass sie irgendwann wieder auf der Bühne stehen dürfen, um diese individuellen Konzertlesungen zu präsentieren, in denen die Welt kurz stillsteht und innehält für einen Menschen, der seinen letzten Weg angetreten hat, der keinem erspart bleibt.