Kirchheim
Dettinger Politiker: So prägen Soldaten die Türkei-Wahl

Urnengang Der Dettinger Hüseyin Şahin hat mit einer Delegation vor der Stichwahl am kommenden Sonntag Wahllokale in der Türkei besucht. Er erklärt die Taktik der Regierungspartei. Von Thomas Zapp

Bewaffnete Polizei und Militär vor den Wahllokalen: Das ist dem in der Türkei geborenen Dettinger Linken-Politiker Hüseyin Şahin vor Ort besonders ins Auge gestochen. Vor der Stichwahl in der Türkei am kommenden Sonntag war er für drei Tage im Osten des Landes. „Das ist natürlich einschüchternd, zumal es an den Eingängen zu den Lokalen auch noch Passkontrollen gibt“, sagt Şahin.

In der Nähe der irakischen Grenze war Şahin mit einer Delegation auf Einladung der grün-linken türkischen Partei Yeşil Sol Parti nach Şirnak gekommen und von dort nach Uludere weitergereist um dort fünf Wahllokale zu besuchen. Die YSP hat auf einen eigenen Kandidaten verzichtet und sich einem Bündnis aus sechs Parteien angeschlossen, um den republikanischen Kandidaten Kemal Kiliçdaroglu zu unterstützen. Er bekam im ersten Durchgang 44,9 Prozent der Stimmen, Amtsinhaber Erdogan 49,5 Prozent.

Das Ergebnis ist denkbar knapp, hätte laut Şahin aber deutlich für die Opposition ausfallen müssen – wenn man von den Umfragen ausginge. Doch der Amtsinhaber kontrolliert die wichtigsten Fernsehsender. „Von völlig freien Wahlen kann man bestimmt nicht sprechen“, sagt Şahin. Außerdem gebe es die Regelungen, dass Soldaten dort wählen dürften, wo sie stationiert sind, nicht an ihrem Wohnort. „Die sind dann oftmals dort stationiert, wo die Opposition stärker ist und 70 bis 80 Prozent der Stimmen bekommen müsste“, sagt er. Wie an dem Ort, den er mit der Delegation besucht hat. In der dünn besiedelten Gegend können hunderte stationierte „Pro-Erdogan-Soldaten“ viel ausmachen. „Das beeinflusst das Wahlergebnis.“
 

Versteckte Manipulationen

Es gibt noch weitere versteckte Manipulationen, von denen Sahin berichtet: Etwa die Zwangsverwaltungen über Orte, wenn ein Bürgermeister wegen Terrorismusverdachts seines Amtes enthoben und durch einen regierungstreuen Vertreter ersetzt wird. Auch was die Wahlwerbung betreffe, sei die Regierungspartei AKP deutlich stärker präsent, auf den Plakaten an den Straßen etwa. „Da sehen Sie vor allem große Erdogan-Fotos“, sagt der Dettinger Politiker, der als Kandidat der Linken bei der Landtags- und Bundestagswahl angetreten war. Seine überwiegend kurdisch stämmigen Kollegen von der YSP werden zudem im Alltag an ihrer politischen Arbeit behindert. „Sie bekommen öfter Polizeibesuch.“

Bei den Themen im Wahlkampf liegt die Wirtschaftskrise in der Türkei auf Platz eins. „Die Lebensmittelpreise sind ständiges Thema in den Medien. Ich habe selbst Rinderhack beim Metzger gekauft, da liegt das Kilo jetzt bei umgerechnet 15 Euro. Das Mindesteinkommen in der Türkei ist bei 400 Euro. Dass Erdogan von den mehr als 1,5 Millionen wahlberechtigte Türken in Deutschland überwiegend gewählt werde, liege daran, dass sie die Probleme im Alltag nicht zu spüren bekommen.

Außerdem schaue man in Deutschland Sender, die sehr regierungsfreundlich seien – manchmal auch wenig subtil wie bei einem Privatsender. „Da wird ein Wahlzettel für die Stichwahl gezeigt, auf dem links das Foto von Erdogan mit Name steht und rechts nur „der Gegenkandidat“, berichtet Sahin. Außerdem komme der Nationalismus, den Erdogan bediene, sehr gut bei Deutschtürken an, wenn sie sich von der deutschen Gesellschaft ungerecht behandelt fühlen, weil sie etwa die schlechteren Jobs haben. 

Das zweite große Thema seien auch in der Türkei die Geflüchteten aus Syrien und dem Irak. „Man weiß nicht, wie viele in der Türkei leben, angeblich sollen es mehr als zehn Millionen sein.“ Dahingehende Fragen würden von der Regierung aber nicht beantwortet. Die innere Sicherheit und Stärke gegen Kurden zeigen, das seien weitere Themen, die vor allem die Ultrarechten zu nutzen wissen .

Şahin selbst wählt übrigens nicht. Der Mitarbeiter der Linken-Fraktion in Berlin besitzt nur die deutsche Staatsbürgerschaft. Die Wahl liegt ihm aber am Herzen. „Auch wenn wir keine offizielle OSZE-Delegation waren, war es uns wichtig, dass wir das Thema der Wahlen europaweit beobachten.“ Außer der rund 15-köpfigen Delegation aus Deutschland waren auch Linkenpolitiker aus anderen europäischen Ländern wie Spanien und Norwegen vor Ort. Auch an der deutschen Regierung übt Sahin Kritik, „dass sie seit Jahren beim stetigen Abbau der Demokratie-, Meinungs- und Pressefreiheit sowie bei Angriffen auf Kurden die Stimme nicht erhebt.“