Kirchheim
Die Johannespassion in der Martinskirche: Eine Botschaft, die uns alle angeht

Musik Die Johannespassion von Bach gibt es in vier Versionen. In der Martinskirche wurde jetzt eine selten aufgeführte Variante mit über 40 Einzelnummern präsentiert – ein besonderes Erlebnis. Von Winfried Müller

Zu einem eindringlichen und berührenden Erlebnis, das allen Zuhörerinnen und Zuhörern „unter die Haut ging“, wurde die Musik zur Todesstunde Jesu in der Martinskirche unter der Stabführung von Bezirkskantor Ralf Sach. Er hatte sich für Bachs Fassung aus dem Jahr 1725 entschieden.

Als diese ein Jahr nach ihrer Uraufführung am Karfreitag in der Leipziger Thomaskirche erklang, hatte sich der Komponist zuvor den Notentext noch einmal vorgenommen. Der gravierendste Eingriff war der Austausch der jeweiligen Anfangs- und Schlusssätze. So eröffnet nun eine kontemplative Choralbearbeitung von „O Mensch, bewein dein Sünde groß“, statt des wuchtig vorwärtsdrängenden Eingangschors „Herr, unser Herrscher“ der Urfassung. Der Choralsatz „Christe, du Lamm Gottes“ anstelle von „Ach Herr, lass dein lieb Engelein“ beschließt die zweite Fassung. Diese Choralrahmung rückte die Passion näher an die Liturgie.

Als einer der stabilen musikalischen Eckpfeiler der Aufführung firmierte die Capella Martini unter der Leitung ihrer Konzertmeisterin Katharina Kefer, die auch für die Zusammenstellung des Ensembles verantwortlich war. Ausgewogen in Stimmen und Registern, überaus professionell in Spieltechnik und Ausdruck, bildete das Ensemble eine klangschöne Basis. Besonders zu erwähnen sind die homogene Holzbläsergruppe mit Monika Wunder und Nerea Hierro an der Oboe, die Querflötisten Thomas von Lüdinghausen und Birgit Maier-Dermann und Hanno Dönneweg am Fagott. Bereits in der groß angelegten Choralbearbeitung über den Choral „O Mensch, bewein dein Sünde groß“ wurde die ideale Verbindung aller Musiker hörbar. Auf langen Atem gestützt, ausbalanciert in den Stimmregistern, konnte sich der Choral frei entfalten, umhüllt vom Orchesterklang mit wunderschönen Holzbläserfigurationen.

Große Spannungsbögen

Als Evangelist hat Bach einen Tenorsolisten vorgesehen. Theodore Browne wurde dieser Rolle mit ihren immensen stimmlichen Anforderungen mehr als gerecht. Seine lyrische Stimme transportierte mit perfekter Textverständlichkeit und Intonation alle Textnuancen, die sich in einem Spektrum von tonlosem Flüstern bis hin zu dramatischen Aufschreien bewegten. Dazu hatte er noch neu eingefügte Arien mit dramatischem Gestus zu bewältigen. Hierbei bestach er mit großen Atem- und Spannungsbögen und höhensicheren Koloraturen.

Der Jesus von Timon Führ, Bass, gefiel durch die unerschütterliche Ruhe, die er stimmlich ausstrahlte. Sein Kavaliersbariton verlieh der „Vox Christi“ die notwendige Autorität in den Dialogszenen, insbesondere in der Auseinandersetzung mit Pontius Pilatus, stimmlich sehr gut repräsentiert durch Florian Aißlinger. In der eingeschobenen Arie mit stark opernhaftem Charakter „Himmel reiße, Welt erbebe“ konnte Timon Führ seine dramatischen Stimmqualitäten unter Beweis stellen, unterstützt von schönen Querflöten und einem Sopranchoral, gesungen von Clara und Katharina Kefer mit klaren Stimmen. In der Arie „Mein teurer Heiland, lass Dich fragen“ zeigte er seine lyrischen Stimmfarben, in idealer Synthese mit dem Chor und dem überragenden Solocello von Jochen Kefer.

Die weiteren Solistinnen, Christina Schmid, Sopran und Sophie Wenzel, Alt, erfüllten die ihnen von Bach zugedachten Aufgaben, zu denen einige der bekanntesten Arien zählen wie „Ich folge dir gleichfalls“ und „Es ist vollbracht“ ebenfalls mit großer Ausdrucksfähigkeit und Souveränität. Bei der Altarie wurde Sophie Wenzel von Jochen Kefer begleitet, der die ursprüngliche Gambenpartie musikalisch „sprechend“ auf dem Cello darstellte. Einer der Höhepunkte in der Passion.

Der Chor, repräsentiert durch den Kirchheimer Kammerchor, bildete durch immer wieder eingestreute Choräle die Sicht der Kirchengemeinde der Zeit ab. In der Darstellung von Gruppen, die am Passionsgeschehen direkt beteiligt waren, den Turbachören, hatten die Sängerinnen und Sänger eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Dramatik. Stimmlich, sprachlich und rhythmisch präzise setzten sie alle geforderten Gefühlslagen plastisch um. Gerieten auch einige wenige Einwürfe bei der „Golgatha-Arie“ intonatorisch etwas spitz, konnte das Ensemble durch anhaltende stimmliche Präsenz und spannungsreiche Konzentration bis zum Ende überzeugen.

Motor und ruhiger Pol der Aufführung war Bezirkskantor Ralf Sach. Er hatte nicht nur den Chor gründlich und sorgfältig auf die Aufführung vorbereitet, sondern hielt auch alle musikalischen Fäden sicher in der Hand, gab durch präzise Gesten und klare Auftakte die notwendigen Impulse und bereicherte die Aufführung mit seinem farbigen Continuospiel. Sein intensives, präzises Dirigat ließ die Aufführung zu einem besonderen Erlebnis werden.