Kirchheim
„Die Kinder werden einfach stillgelegt“

Lebenshilfe Gemeinsam durch drei Lock-Downs: Die 23jährige Maite Würth unterstützt den zwölfjährigen John Leigh ehrenamtlich für den Familienentlastenden Dienst (FED) der Lebenshilfe Kirchheim. Von Julia Nemetschek-Renz

„Gehen wir zur Alleenschule? Meinst du, da ist offen?“ Maite Würth schaut den 12jährigen John an. Sie laufen an der Stuttgarter Straße entlang, Richtung Stadtmitte. Bleiben kurz stehen. Laster donnern vorbei. Sie sind auf der Suche nach einem Basketballkorb – wie eigentlich immer nachmittags, wenn der ganze Schulkram geschafft ist. Seit dem Frühling 2020 ist Maite Würth mehrmals in der Woche für den FED bei den Leighs. Hat sich mit John durch die Arbeitsblätter im Fernunterricht gewühlt, mit ihm gekocht und draußen ausgetobt. „Aber das war im letzten Frühsommer echt krass, wir haben die ganze Stadt nach einem Basketballkorb abgesucht“, erzählt die Studentin. „Alle Spielplätze waren gesperrt. Wir haben keinen einzigen Korb gefunden, in ganz Kirchheim. Die Kinder werden einfach stillgelegt in dieser Zeit.“

1,5 Millionen junge Menschen unter 25 Jahre in Deutschland haben eine Behinderung. Und sie sind besonders schwer von der Pandemie betroffen. Das ist das Ergebnis des deutschen Kinder- und Jugendhilfe-Monitors 2021, der jetzt von der Arbeitsgemeinschaft Kinder- und Jugendhilfe (AGJ) vorgestellt wurde. 40% der Familien bräuchten eigentlich Unterstützung beim Homeschooling, knapp 70% seien auf Hilfe durch Dritte im häuslichen Umfeld angewiesen.

Die AGJ fordert einen Post-Corona-Sonderurlaub für Familien. „Die Familien sind echt aufgeschmissen in dieser Zeit“, sagt auch Renate Baiker, Bereichsleiterin der Offenen Hilfen der Lebenshilfe Kirchheim. In diesem Jahr haben sie und ihre Mitarbeiterinnen so viel telefoniert wie noch nie. Zugehört, nachgefragt und Einzelbetreuungen in die Familien vermittelt. Damit die Kinder das Homeschooling schaffen, die Eltern arbeiten gehen können oder auch mal kurz durchatmen. 58 Ehrenamtliche arbeiten für eine Aufwandsentschädigung in der Einzelbetreuung, rund 50 Familien nehmen diese Unterstützung des FED an. 

John war in der vierten Klasse, als der erste Lockdown kam. Sein Vater ist alleinerziehend und voll berufstätig. Die Urlaubstage hatte er aufgebraucht, Überstunden abgebaut. Home-Office war nicht möglich. Er ist Lagerist. Und in die Notbetreuung durfte John nicht, im Frühsommer 2020. „Diese ganzen Arbeitsblätter, die er da bekommen hat, die habe manchmal auch ich nicht verstanden“, erzählt Maite Würth. „Wie soll ein Kind das denn allein schaffen?“ Maite Würth kommt im Sommer 2020 fast jeden Tag zu John. Gemeinsam schaffen sie die Hausaufgaben, nachmittags schwimmen sie in der Lauter oder gehen Bälle werfen im Park, das ist nie verboten.

John kann sich immer besser auf die Schulsachen konzentrieren. „Und hej, sein Zeugnis von der vierten war echt richtig gut!“ Maite Würth lächelt und schaut John an. „Ich sag’s mal so“, sagt John und grinst stolz. „Ich hab noch ein paar Sachen nachgeholt. Aber jetzt gehe ich auf die Realschule. Und das klappt.“ Die beiden laufen am Kirchheimer Stuntwerk vorbei. Einem Kletterpark in einer alten Fabrikhalle. „Hey Maite, weißt du noch, wir im Sommer? Ich war voll hoch!“ John lacht. Im Sommer war der Kletterpark kurz geöffnet, die beiden haben den Ninja-Warriors-Parcour geschafft und der ist eigentlich erst ab 14.

Und seit ein paar Wochen hat John endlich wieder Basketball-Training. Er ist riesiger Knights-Fan. „Der John hat Talent“, sagt Maite Würth. „Wenn er durch die Beine dribbelt, dann bin ich raus.“ Doch jeden Tag in die Schule darf er immer noch nicht, vor den Ferien war Wechselunterricht. Und wer weiß, wie es nach den Pfingstferien weiter geht? Ob im Herbst nicht wieder Fernunterricht ist? Alle Ausflüge und Klassenfahrten fallen auch in diesem Sommer aus. Erwachsene planen erste Flugreisen, die Restaurants öffnen wieder, die Kinder hängen weiter in der Warteschleife.

John und Maite Würth laufen jetzt durch die Fußgängerzone in Kirchheim – und zum Schulhof der Alleenschule. Schräg gegenüber liegt die Trainingshalle der Knights. Doch das Schulhof-Tor ist zu. Drinnen spielen Jugendliche Basketball. Irgendwer muss das Tor abgeschlossen haben, aus Versehen. Maite Würth überlegt, sucht nach einem anderen Eingang. Da winkt John schon vom Basketballfeld, er hat einen Korb organisiert, kennt hier alle Leute. „Wie bist du denn da rüber gekommen? Geklettert?“, fragt sie, stellt ihren Rucksack neben das Tor und klettert hinterher.

Info Wer als Familie Unterstützung braucht oder als FED-Helfer arbeiten möchte kann sich an die Lebenshilfe wenden unter www.lebenshilfe-kirchheim.de/de/kinder-und-jugendliche/offene-hilfen.