Kirchheim

Die Mahnung ist noch aktuell

Schauspiel Das Landestheater Tübingen zeigte in der Kirchheimer Stadthalle Lessings „Nathan der Weise“. Seine Toleranzidee kann in der heutigen Zeit nicht als Patentrezept verkauft werden. Von Ulrich Staehle

Archiv-Foto: LTT

Nathan der Weise - auf den Bühnen ein Dauerbrenner. Seine Geschichte, die 1194 in Jerusalem während eines Waffenstillstands zwischen Christen und Muslimen spielt, fasziniert immer wieder durch die Mahnung zur Toleranz, die der Jude Nathan trotz eines schweren Schicksals abgibt. Durch einen Gewaltakt der Christen hat er sieben Söhne verloren. Das Findelkind Recha, das er als seine Tochter aufzieht, gibt ihm Trost. Damit gerät er aber als Jude in das religiöse Spannungsfeld zwischen den muslimischen und den christlichen Kriegsparteien in Person des Sultans und des Patriarchen.

Gotthold Ephraim Lessing benutzt mit diesem Stück die Bühne, da ihm nach einem öffentlichen Streit mit der offiziellen protestantischen Kirche Redeverbot erteilt worden ist, um aus dem Munde Nathans seine Theologie zu verkünden: In der Ringparabel gibt er die Antwort auf die Frage, welche der monotheistischen Religionen die wahre ist: sie muss sich im toleranten und humanen Verhalten der Gläubigen erweisen.

Dieser optimistische, vom Geist der Aufklärung geprägte Ansatz hat dem Protestanten Lessing Ärger eingebracht - war aber dann Allgemeingut geworden. Heute aber ist, nach der Barbarei im 20. Jahrhundert, der Glaube an „die sanfte Gewalt der Vernunft“ verloren gegangen. George Tabori, dessen Eltern im KZ umkamen, hat ein Stück „Nathans Tod“ geschrieben mit dem gleichen Personal wie bei Lessing. Doch bei ihm erlebt Nathan ein qualvolles Ende. Oder nehmen wir die aktuelle Stuttgarter Inszenierung von Lessings „Nathan“, bei der die Ringparabel im Chaos versinkt.

Blick hinter die Kulissen

Nun hat das Landestheater Tübingen den Nathan geschultert und war damit zu Gast in der Kirchheimer Stadthalle. In der informativen Vorbesprechung gab die Dramaturgin Kerstin Grübmeyer einen Einblick in die Intentionen der Inszenierung. Sie stellte klar, dass Lessings Toleranzidee nicht als Patentrezept verkauft werden kann, sondern „erarbeitet werden muss“, angesichts der von Kriegen und der von Immigrationsproblemen gekennzeichneten Gegenwart.

Auf der Bühne wurde das schon durch das multifunktionale Bühnenbild deutlich. Tiefe Wohnstubensessel, Palmen und sonst allerlei ist dort nebeneinander versammelt. Hauptsache, das Mobiliar ist praktisch mit seinen erhöhten schrägen Spielflächen und gibt die Möglichkeit, schnell auf- und abzutreten. In dieser Kulisse bildet Nathan, gespielt von Patrick Schnicke, keineswegs einen sicheren Halt. Er ist relativ jung und nicht der Weise, sondern einer, der nach Weisheit sucht. Auch die anderen Bühnengestalten sind angesichts der verworrenen Lage von Nervosität und Unsicherheit geprägt. Daja, die christliche Haushälterin in einem jüdischen Haushalt, war schon immer zwischen ihrem Glauben und der Güte Nathans hin- und hergerissen.

Außergewöhnlich aber ist, dass auch der Sultan keine absolute Macht ausstrahlt, sondern sichtlich nervös auf der Suche nach Wahrheit ist. Nervös und zappelig ist erst recht der Tempelherr, der Nathans Tochter aus dem brennenden Haus rettet. Der Tempelherr schlingert zwischen verschiedenen Gemütslagen herum und findet schließlich seinen Platz als Bruder Rechas im Schlusstableau. Der Klosterbruder, in anderen Inszenierungen meist ein dickbäuchiger, naiv-schlauer, sympathischer Vertreter des Christentums, ist bei den Tübingern ein langhaariger Schlacks in komödiantischer Daueraufregung.

Ein konsequenter Regisseur

Regisseur Christoph Roos ist also konsequent. Er lässt die Bühnenpersonen sehr emotional agieren. Das gibt den Schwung, um angesichts der von aufklärerischer Rationalität geprägten Dialoge die Spannung aufrecht zu erhalten. Erstaunlich ist, wie der Blankvers, den Lessing mit diesem „dramatischen Gedicht“ auf den deutschen Bühnen etabliert hat und der sich so holprig liest, sich mit dieser emotionalen Aufladung verflüssigt und lebendig wirkt. Das schafft Publikumsnähe genauso wie die „Breaks“, die Dramaturgin Grübmeyer angekündigt hat: Immer wieder unterbricht ein Black-out das Bühnengeschehen und es werden im Chor „Fremdtexte“ aus den aktuellen sozialen Medien zitiert. Sie stellen mit ihrem Fremdenhass, dem religiösen Fanatismus und der Gewaltverherrlichung ein Kontrastprogramm zu Nathans Botschaft dar.

Die Tübinger wollen davor nicht resignieren. In der entscheidenden Szene, in der es um die wahre Religion geht, sitzt Nathan dem Sultan gegenüber auf schiefer Ebene. Bei der Kernaussage der Ringparabel steht er aber auf und spricht sehr ernst und ruhig direkt ins Publikum, das sichtlich ergriffen ist.