Kirchheim

Die Opfer erhalten eine Stimme

Mahnmal Zur Erinnerungsstätte für die Kirchheimer, die unter dem Nationalsozialismus zu leiden hatten, gibt es jetzt eine Begleitbroschüre, in der die Geschichten hinter den Einzelschicksalen erzählt werden. Von Andreas Volz

Die neue Broschüre am Ort des Mahnmals - beides gewidmet „allen zivilen Opfern Kirchheims mit ihren Angehörigen“.Fotos: Markus B
Die neue Broschüre am Ort des Mahnmals - beides gewidmet „allen zivilen Opfern Kirchheims mit ihren Angehörigen“. Fotos: Markus Brändli

Von außen dringt Stimmengewirr in den Kellerraum. Immer lauter werden die Sätze. Immer wieder sind einzelne Wörter und sogar Satzfetzen deutlich zu verstehen. Vorgetragen werden Sätze, wie sie auf dem Mahnmal für die zivilen Opfer des Nationalsozialismus in Kirchheim zu lesen sind: „Wir wurden als Kinder Opfer der Luftangriffe auf Kirchheim“ - „Ich war Kommunist und kam ins KZ auf dem Heuberg“ - „Auch in Kirchheim mussten wir den Judenstern tragen. Wir wurden entrechtet, zur Flucht getrieben oder im KZ ermordet“.

Viele solche Sätze stehen auf den Mahnmal-Spruchbändern auf dem Alten Friedhof. Darunter befinden sich auch Sätze, die in jeder Hinsicht „unsagbar“ sind, zum Beispiel: „Man hat uns als russische Kriegsgefangene erschossen“ oder „Mich hat man als junge deutsche Frau bei meiner Flucht aus dem Osten im Mai 1945 zu Tode vergewaltigt“. Die Sätze sollen den Opfern des Nationalsozialismus eine Stimme geben - gerade auch den Toten, obwohl natürlich nur diejenigen ihre Geschichte erzählen konnten, die überlebt hatten.

Als die Pläne für das Mahnmal in Kirchheim konkreter wurden, war allen Beteiligten klar, dass es mehr geben müsse als „nur“ die „Stimme“ der leidgeplagten Kirchheimer aus den unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen. Die „Stimme“ erschöpft sich ja in dem einen prägnanten Satz. Es sollte aber auch die Geschichte erzählt werden, die dahinter steckt.

Das ist jetzt gelungen, weil es eine Begleitbroschüre zum Mahnmal gibt. Wie das Denkmal selbst, ist auch die Broschüre ein großes Gemeinschaftsprojekt - was die Mitarbeit betrifft wie auch die Finanzierung durch Spenden. Die „Begleitpublikation“ wurde nun im Spitalkeller der Öffentlichkeit präsentiert. Das Stimmengewirr zum Auftakt stammte von Schülern des Ludwig-Uhland-Gymnasiums: Die 9d hatte sich im Vorfeld intensiv mit dem Mahnmal, mit der Broschüre und mit den einzelnen Geschichten befasst.

Als Projektarbeit unter Anleitung der Referendarin Sinem Yurt war ein „Mini-Museum“ entstanden. Die 9d wollte auch andere Klassen an ihrem Wissen um die Gewaltherrschaft im „Dritten Reich“ teilhaben lassen und hat die harten Fakten museal-interaktiv aufbereitet. Die Schüler wollten damit zeigen, dass Geschichte zwar mitunter lange her sein mag, dass sie einem aber trotzdem nicht egal sein kann: „Auf dem Mahnmal stehen Sätze, die Menschen gesagt haben könnten. Das waren Menschen aus Kirchheim. Sie hätten unsere Nachbarn sein können.“

Damit hat die 9d - musikalisch unterstützt von herausragenden Talenten aus der 10f - genau das vermittelt, was das gesamte Mahnmal ausdrücken soll. Kirchheims Oberbürgermeisterin Angelika Matt-Heidecker hatte in ihrem Grußwort gesagt: „Wir wollen weder anklagen noch verurteilen oder verunglimpfen. Aber wir wollen Wissen weitergeben, wir wollen zeigen, was Gewaltherrschaft mit sich bringt, und wir wollen Menschen dazu auffordern, Verantwortung für Gegenwart und Zukunft zu übernehmen.“

Völlig verschiedene Schicksale

Die Opfer und ihre Schicksale waren ganz unterschiedlich. Zu den eingangs bereits genannten Beispielen kommen noch Opfer von Zwangssterilisierungen hinzu, psychisch kranke und behinderte Menschen, die in Grafeneck vergast wurden, oder Menschen, die zwischen 1933 und 1945 wegen ihrer politischen Einstellung oder als Angehörige von Minderheiten verfolgt oder auch „nur“ mit Berufsverbot belegt wurden. Auch die als falsch eingestufte sexuelle Orientierung konnte tödlich enden. Familienangehörige von Soldaten, die gefallen waren oder in Gefangenschaft gerieten, zählen ebenso zu den zivilen Opfern des Nationalsozialismus, deren das Mahnmal gedenken soll.

Die Geschichten sollten eigentlich hinreichend bekannt sein. Es gab sie überall, in ganz Deutschland, sogar in halb Europa. Das Besondere an den Geschichten und Schicksalen des Mahnmals und der Begleitbroschüre besteht aber darin, dass es um Menschen geht, die mit Kirchheim zu tun hatten. Entweder haben sie selbst hier gelebt oder zumindest ihre Familien. Diese Tatsache geht jedem, der sich mit dem Leben oder auch mit dem Sterben der Opfer befasst, sehr viel näher, als das bei Geschichten über völlig fremde Menschen aus gänzlich unbekannten Gegenden der Fall wäre.

Das Mahnmal auf dem Alten Friedhof hat seinen Zweck in dieser Hinsicht schon nach kurzer Zeit erreicht. Das ist das Ergebnis einer Befragung unter den Besuchern des „Mini-Museums“ der 9d, wie Sinem Yurt erläutert: „Was sich bei allen am besten eingeprägt hat, waren die Zitate der Opfer.“ Die Opfer haben also tatsächlich eine gewichtige Stimme erhalten.

In einem fiktiven Gespräch unterhält sich die Klasse 9d des LUG über die Bedeutung des Mahnmals in Kirchheim. Kernaussage: „Es i
In einem fiktiven Gespräch unterhält sich die Klasse 9d des LUG über die Bedeutung des Mahnmals in Kirchheim. Kernaussage: „Es ist nicht jedem egal. Es sollte keinem egal sein, und mir ist es nicht egal.“