Kirchheim
Die Scham ist die letzte Wahrheit

Lesung Eva Christina Zeller liest im ­Rahmen der Frauenkulturtage aus ihrem Roman „Unterm Teppich“, einer Autobiografie der besonderen Art. Von Ulrich Staehle

Der Literaturbeirat hat wieder einen brandneuen Text bei einer sonntäglichen Matinee im Max-Eyth-Haus vorgestellt. Gastgeberin Carola Abraham bereitete das Publikum schonend darauf vor: Der Roman „Unterm Teppich“, 2022 erschienen, ist eine Autobiografie moderner Art, eine „Autofiktion“. Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat dieses Genre etabliert. Es besteht aus einer Mischung aus Erlebnis und Erfindung. „Was wahr ist, weiß niemand.“

Ganz gewiss wahr ist, dass Eva Christina Zeller 1960 in Ulm als siebtes Kind einer Pfarrersfamilie zur Welt kam. Damit sind sprichwörtlich Schwierigkeiten von Pfarrerskindern programmiert. Zeller absolvierte ein Studium der Philosophie, Germanistik und Theaterwissenschaften. Sie ist Mutter zweier Töchter und lebt in Tübingen. Für ihr literarisches Schreiben hat sie zahlreiche Auszeichnungen bekommen. Vor allem als Lyrikerin ist sie in Erscheinung getreten. „Unterm Teppich“ ist ihr erster Roman. Er bietet eine individuelle Form: 61 Kurztexte setzen sich wie ein Mosaik zu einer Frauenbiografie zusammen.

Die Autorin las die ersten Texte, in denen inhaltliche und formale Grundlagen auftauchen. Mit der Geburt wird das eigentlich unerwünschte Kind schon schuldig: Die Mutter kann dadurch nicht, wie erhofft, den Führerschein machen. Das hat ihre Entwicklung beeinträchtigt. Die Tochter schämt sich zeitlebens ihrer Existenz. „Die Scham“ sei das eigentliche Subjekt des Romans, nicht „das Kind“ oder „sie“ oder was sonst noch im Text für das epische Ich verwendet wird, erläutert die Autorin und beruft sich auf Annie Ernaux mit dem Motto „Die Scham ist die letzte Wahrheit“. Allgemein gilt: „Die Erinnerung ist der beste Schriftsteller.“ Die Lücken im Gedächtnis werden mit Bildern und Märchen geschlossen.

Viele Befreiungsversuche

Im Gedächtnis hat die Autorin eine Kindheit in einem pietistischen Pfarrhaus. Sie zitiert im „Epilog“: „Die Kindheit ist lang und schmal wie ein Sarg.“ Ein Mensch, „der sich ein schönes Leben macht“, galt in diesen Kreisen als verdammungswürdig. Die weiteren Texte handeln von Befreiungsversuchen des weiblichen epischen Ichs, das in erstaunlicher Weise in der großen Welt herumkommt und das erstaunlich viele Partner nacheinander hat. Es ist immer wieder Objekt männlicher sexueller Begierde und im Zweifelsfalle werden Täter- und Opferrolle unzulässig vertauscht. Nicht nur nackte Tatsachen, sondern auch nackte Körper erscheinen als Gegensatz zur Prüderie der Herkunftswelt. Ein neuer Blick fällt auch auf Mythen wie Medusa und auf Märchen: „Die Sterntaler“ als Geldsegen werden als „reinstes Opium für Mädchen“ gedeutet, geliefert durch die Brüder Grimm. Zu Recht wurde die Lesung als Beitrag zu den Frauenkulturtagen angekündigt.

Die von Frauen geprägte Zuhörerschaft zeigte sich von dem, was „Unterm Teppich“ hervorkam, tief beeindruckt, wie das anschließende Gespräch zeigte. Auf Wunsch las die Autorin noch zwei ihrer Gedichte vor. Darin geht es um den Tod der Mutter und passt zum Thema Scham. Im Roman spricht die Tochter davon, dass sie am Totenbett der Mutter vor lauter Hunger chinesische Nudeln gegessen hat und sich jetzt dafür schämt.

Lob vom Kritikerpapst

Zum Schluss betonte die Autorin, wie viel Distanz und zeitlicher Abstand für sie nötig war, um unter den Teppich zu schauen. Doch es hat sich offenbar gelohnt. Der Kritikerpapst Denis Scheck hat sich ungewohnt weit bei seinem Lob aus dem Fenster gelehnt. Die Lektüre habe ihm „unverschämt gute Laune“ gemacht: „Das ist gut verdichtete Prosa, dass man nach den 61 Episoden das Gefühl hat, einen großen Lebensroman gelesen zu haben.“