Kirchheim
„Die soziale Frage kehrt mit Wucht zurück“

Demo Bei der 1. Mai-Kundgebung vor dem Kirchheimer Rathaus stellte der Erste Bevollmächtigte der IG Metall Esslingen, Gerhard Wick, die ungebrochene Solidarität in den Mittelpunkt. Von Thomas Krytzner

Etwas mehr als 100 Teilnehmende versammelten sich am gestrigen Montagnachmittag zur Kundgebung mit anschließender Demonstration vor dem Kirchheimer Rathaus, wo sie von dessen Hausherr, Oberbürgermeister Dr. Pascal Bader, begrüßt wurden. Er lobte die Leistung im öffentlichen Dienst und stellte fest: „Der Lohn ist gerechtfertigt.“

Im gleichen Atemzug warnte OB Bader jedoch vor den Nachteilen einer Spirale bei den Lohnkosten. „Die Stadt muss sich entweder über Erhöhung von Steuern und Gebühren Gedanken machen oder Leistungen zu senken.“

Gastredner Gehard Wick, erster Bevollmächtigter der IG Metall Esslingen, kam nicht umhin, an die Geschichte der Solidarität im Lande zu erinnern. „Wir konnten gemeinsam Verbesserungen erkämpfen, mussten aber auch Niederlagen hinnehmen.“ Mit Blick auf die Historie betonte er, dass man rechtsextreme Parteien politisch bekämpfen und niemals akzeptieren wolle. Den Anwesenden erklärte er, dass der 1. Mai zwar als Internationaler Feiertag der Beschäftigten gefeiert werde, man aber die gute Tradition pflege, an diesen Tagen Solidarität mit Verfolgten zu zeigen. Dabei nannte er die Namen mehrerer in Belarus inhaftierter Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter und forderte die sofortige und bedingungsloses Freilassung aller politisch Gefangenen in Belarus.

„Die Waffen müssen endlich schweigen“

Dem Krieg in der Ukraine begegnet Gerhard Wick mit Abscheu und Zorn. Er fordert: „Die Waffen müssen endlich schweigen.“ Er solidarisiert sich mit den Opfern des Krieges: „Das sind Kinder, Frauen und Männer, vor allem arme Menschen.“ Der IG Metall-Vertreter fordert einen raschen Waffelstillstand mit anschließenden Verhandlungen. „Frieden kann nicht auf dem Schlachtfeld erreicht werden“, mahnte er.

„Die soziale Frage kehrt mit Wucht zurück“, sagte Wick und prangerte damit die Ungerechtigkeit an: „Junge Familien finden keine bezahlbaren Wohnungen und die Welt versagt un seren Kindern eine gute Schulbildung.“ Man warte seit Jahren auf die oft genannte „Zeitenwende“, doch Bundeskanzler und Finanzminister hätten lieber über Nacht 100 Milliarde Euro für die Verteidigung locker gemacht.

Ungerechte Kostenverteilung

In Bezug auf den Klimawandel und den Beitrag jedes einzelnen kritisierte Gerhard Wick die Ungerechtigkeit der Verteilung der Kosten. „Arbeitgeber erhöhen die Preise für ihre Waren und begründen dies mit gestiegenen Rohstoff- und Energiepreisen“, erklärte Wick und betonte, „auch wir Beschäftigten schreiben Verluste.“

Wollen Arbeitgeber nicht mehr Lohn bezahlen, so der Redner, bleibe Streik als letztes Argument. Gerhard Wick präzisiert: „Streik ist das fundamentale Recht der Arbeitnehmenden, damit sie ihre Interessen wirkungsvoll vertreten können.“ Er ist überzeugt, dass Solidarität Nähe brauche. Kein Bildschirm könne die persönliche Begegnung im Betrieb, auf der Straße oder im Gewerkschaftshaus ersetzen.

Zwischen Maibaum und Rathaus versammelten sich über 100 Teilnehmende zur 1. Mai Kundgebung und der anschließenden Demonstration. Foto: Thomas Krytzner

Hans Dörr vom Kirchheimer Forum 2030 ging im Anschluss auf die Klimathematik ein und erörterte die Frage, was die Welt gegen den Klimawandel tun kann. Eylen Aslam vom Volkshaus Kirchheim misst dem 1. Mai wachsende Bedeutung zu: „Wir streiten für eine Gesellschaft ohne Zwang.“ Man wolle sich nicht mehr mit kleinen Kompromissen zufrieden geben, man sehne sich nach dem Besseren. „Menschen statt Profite sollen an erster Stelle stehen“, so Eylen Aslam.

Drei Fragen an Gerhard Wick

Wie stehen die Chancen für einen Arbeitskampf ohne geballte Fäuste in der Hosentasche?

Wir haben noch nie etwas geschenkt bekommen. Wir mussten nicht immer lange dafür streiken. Manchmal genügte die Faust in der Tasche, die aber für unsere Verhandlungspartner durchaus sichtbar war. In Zeiten in denen die Interessengegensätze größer sind, reicht das dann auch mal nicht und wir müssen auf die Straße.

Was muss sich in der deutschen Wirtschaft ändern, um Armut abzuwenden?

In Branchen in denen die Beschäftigten gut organisiert sind und ihre Gewerkschaft dementsprechend handlungsfähig, haben wir gute Tarifverträge. Mit den tariflichen entgelten wird man zwar nicht unbedingt reich, aber man kann davon leben. In nicht tarifgebundenen Betrieben verdienen die Beschäftigten deutlich weniger. Dennoch haben Beschäftigte Angst vor Armut. Auch gute Löhne verhindern das nicht. Unser Sozialstaat ist eben nicht so gut wie manche behaupten. Lange Arbeitslosigkeit, Alleinerziehende, Kinder, Mieten in den Städten, lange Krankheit usw. kann eben auch zu Armut führen. Beschäftigte haben oft nicht die Mittel entsprechende Rücklagen für schwierige Situationen zu bilden. Gewerkschaften sind immer noch das Stärkste was die Schwachen haben. Gemeinsam können wir über Tarifverträge besser Löhne durchsetzen und auch unseren Sozialstaat gestalten. Das haben unsere Eltern und Großeltern gewusst. Sie waren als Arbeitnehmer selbstverständlich in einer Gewerkschaft. Ihr Engagement ist heute noch die Basis vieler guter Tarifverträge und auch sozialstaatlicher Absicherung.

Welchen Rat haben Sie an die heranwachsenden Jugendlichen für die Zukunft?

Ich bin in den 1976 ins Berufsleben eingestiegen. Nach der sogenannten Ölkrise war der Optimismus etwas gedämpfter. Die Situation heute, mit ihren vielen technischen Möglichkeiten war für uns damals pure Science Fiction. Junge Leute betrachten nach meiner Erfahrung die Zukunft immer positiv. Auch wenn etwas mehr Skepsis manchmal angebracht wäre. Aber das ist das Privileg der Jugend: Realitäten ausblenden und versuchen etwas neu zu gestalten. Wir sehen das bei der Klimabewegung, oder auch bei uns in der Gewerkschaftsjugend. Wir älteren brauchen die Gelassenheit das zu akzeptieren und auch zu unterstützen. Sonst ändert sich nie etwas. Ältere neigen zu Konservatismus der angesichts des Zustandes der Welt nicht angebracht ist. Ich rate Jugendlichen auf jeden Fall sich zu engagieren, sich einzumischen. In Gewerkschaften, Klimabewegung, Parteien, Vereinen. Frech sein in der Argumentation. In Gewerkschaften erlebt man Demokratie sehr direkt. Wir streiten um eine Forderung, beschließen eine Forderung und setzen sie (mehr oder weniger) durch. Die Ergebnisse des Engagements werden unmittelbar sichtbar. In der Gesellschaftspolitik braucht das einen längeren Atem, aber es ist möglich. Wir leben schließlich in einer Demokratie. 

Über 100 nahmen an der Demonstration teil, die sich nach der Kundgebung vor dem Rathaus in Richtung Linde in Bewegung setzte. Foto: Thomas Krytzner