Am Ende der Führung haben sich die Gummistiefel dann doch noch bewähren können: Eine große, mehrere Zentimeter tiefe Pfütze musste durchquert werden – oder man stand einfach mittendrin, um den Worten von Sebastian Heinel, Teamleiter Besucherdienst beim Verein Bahnprojekt Stuttgart–Ulm, lauschen zu können. Zu diesem Zeitpunkt wussten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der besonderen Besichtigungstour schon ziemlich viel über den Bau des Albvorlandtunnels, insbesondere, was sich in Wendlingen derzeit alles abspielt.
Die Führungen am Samstag waren ausschließlich für die Leserinnen und Leser des Teckboten reserviert. Bei strahlendem Sonnenschein standen sie unter der schattenspendenden Brücke am Wendlinger Bahnhof. Jede volle Stunde fuhr ein Bus zu den Bürocontainern, die am Tunneleingang mit Großer und Kleiner Wendlinger Kurve stehen.
Zunächst gab es einen etwa einstündigen Überblick über die ICE-Neubaustrecke Wendlingen–Ulm. „Das war eine schöne Kooperation, die sich mit dem Teckboten ergeben hat“, begrüßte Sebastian Heinel die Gäste. Der Verein hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Bürgerinnen und Bürgern über das einmalige Bahn-Projekt in jeder Bauphase zu informieren, sei es in Stuttgart oder auf der Strecke. „Im Dezember ist hier im Albvorlandtunnel Strom auf der Leitung. Das sind 15 000 Volt – dann sind die Besuchergruppen durch. Sie haben eine der letzten Chancen ergattert“, beglückwünschte er seine Zuhörerinnen und Zuhörer.
Nach der Theorie ging‘s los. Zunächst musste sich jeder baustellenkonform einkleiden: mit Einwegsocken in die roten Gummistiefel rein, Warnweste an und Helm auf. Zum Schluss gab es noch ein elektronisches Ortungskärtle um den Hals, nicht dass jemand verloren geht. Von oben konnte man auf die Kleine Wendlinger Kurve schauen – wie sie verläuft und auf die Brücke zuführt. Die Große Wendlinger Kurve ist ebenfalls schon weit fortgeschritten, auch über deren Verlauf konnte sich jeder und jede ein Bild machen.
Endlich näherte sich die Gruppe dem Tunnel. Mit jedem Schritt wurde es kühler, der Anblick begeisterte: eine Lichtshow der ganz eigenen Art erwartete die Besucherinnen und Besucher. Weiße Lichtröhren waren in regelmäßigen Abständen an der rechten Tunnelwand angebracht. Immer mal wieder gab es ein blaues Lichtband – und irgendwann ein grünes. „Die Farben haben eine Bedeutung. Bei den blauen Lichtringen sind die Löschwasserrohre installiert, bei dem grünen ist der Querschlag. Das heißt, wir sind jetzt 500 Meter tief im Tunnel. In 500 Meter kommt die nächste Verbindung der beiden Tunnelröhren“, erklärte Sebastian Heinel. Sollte es zu einem Zwischenfall im Zugverkehr kommen, müssen die Reisenden maximal 250 Meter bis zum Fluchtweg in die Parallel-Röhre zurücklegen.
Sebastian Heinel sprach über die Arbeit auf den Tunnelbohrmaschinen und welch exakte Logistikplanung dem Ganzen vorausging. Jeder der 60 000 Tübbingsteine hat seine eigene Form, „Lochung“ und Barcode. Alle mussten punktgenau vom großen Tübbinglager auf dem Hungerberg in Dettingen zum Einbau in den Tunnel transportiert werden. Produziert wurden sie direkt bei der Firma Leicht in einem eigens dafür gebauten Betonwerk.
Das war auch der Grund für eine Besucherin, an der Führung teilzunehmen. Sie arbeitet bei der Firma Leicht. „Das war damals unheimlich laut und ich wollte wissen, was die Männer in ihren Zehn-, Zwölf-Stunden-Schichten geleistet haben“, hat sie heute noch großen Respekt vor dieser schweren Arbeit. Ein Besucher ist Modelleisenbahner. Er dokumentiert für sich den Abschnitt vom Aichelberg bis zum Tunnel. „Wenn ich später im Zug sitze und durch den Tunnel fahre, kann ich jedem sagen: Da war ich schon zu Fuß“, freut sich ein anderer Teilnehmer schon jetzt auf die ungläubigen Blicke seiner Mitreisenden.
Interessantes rund um den Tunnel
Die Magistrale Paris-Budapest/Bratislava führt mit der ICE-Neubaustrecke Wendlingen–Ulm direkt an Kirchheim vorbei. Neue Drehscheibe wird Stuttgart sein, damit sollen die Fahrzeiten deutlich reduziert werden. Durch weniger Umstiege in Stuttgart erhöht sich der Komfort für die Bahnkunden und das Nadelöhr Geislinger Steige ist irgendwann Vergangenheit.
Wendlinger Kurve: Aus einer Kurve wurden mitten in der Bauphase nach intensiven Diskussionen zwei – zu der Kleinen kam die Große Wendlinger Kurve dazu. Damit wird der zweigleisige Ausbau realisiert und die Kommunen der Regionen Stuttgart sowie Neckaralb an die Neubaustrecke angebunden.
Auf der Alb wurde auch recht kurzfristig eine Optimierung realisiert: der Regionalbahnhof Merklingen. Das ist der Initiative des Laichinger Bürgermeisters zu verdanken der weitere Mitstreiter fand. Es bildete sich ein Bündnis der Gemeinden Heroldstatt, Laichingen, Merklingen, Nellingen, Westerheim und Berghülen. „Das war ein ziemlich guter Schachzug und bietet großes Entwicklungspotenzial für die Kommunen“, ist Sebastian Heinel überzeugt.
Auf der betonierten Trasse lassen sich nicht nur hohe Geschwindigkeiten fahren, sie „erträgt“ auch viel Verkehr. Die neue Technik soll ohne große Reparaturen 60 bis 80 Jahre halten. Es werden 120 Meter lange Schienen verlegt – und eine Million Meter Kabel. „Das ist eine große Herausforderungen und hochkomplex“, sagt Sebastian Heinel.
Kurioses hat er am Rande auch zu berichten. Eines der vielen Kabel wird aus einem Kerosin-Abfallprodukt hergestellt. „Weil wegen der Corona-Krise viel weniger Flugzeuge unterwegs waren, wurde dieses Wegwerfprodukt zur Mangelwaren, die Kosten haben sich vervielfacht.“
Die Heilige Barbara gehört zu jeder Tunnelbaustelle, eine Figur hängt über dem Tunnelportal in Wendlingen. Sie soll die Mineure bei ihrer Arbeit im Berg schützen. Es gibt auch einen Betriebsseelsorger, den katholischen Diakon Peter Maile. „Er ist sehr beliebt bei den Männern, die lange Zeit fernab von ihren Familien in den Containerdörfern leben müssen. Er ist schon ein paar Mal nach Slowenien geflogen, um Kinder zu taufen“, verrät Heinel. ih