Kirchheim
„Die Vegetation steht ständig unter Vollstress“

Frost Nach den hohen Temperaturen im März könnten die kalten Nächte in der vergangenen Woche bis zu einem Viertel der früh blühenden Kirschen und Zwetschgen geschädigt haben. Von Thomas Zapp

Der Anruf des Teckboten hat Rudolf Thaler keine Ruhe gelassen: Am Freitagvormittag hat der Vorsitzende des Bissinger Obst- und Gartenbauvereins daher noch einmal eine Runde gedreht, um sich die Bäume an der Ochsenwanger Steige anzuschauen. Das Ergebnis ist ernüchternd: Die Blüten vieler Kirsch- und Zwetschgenbäume sind kaputt. Ein Tag nach der ersten Frostnacht im April von Ostermontag auf Dienstag war er noch davon ausgegangen, mit einem blauen Auge davon gekommen zu sein. Nun sind es doch mehr Schäden als gedacht. Das gelte sowohl für das „Kälteloch“ bei Ochsenwang, wo im Februar sogar bis minus 18 Grad gemessen wurden, als auch für seinen Aprikosenbaum am Haus in Bissingen. Bei den Birnen habe er aber nichts gefunden, nur leichte Schäden an den Blättern. Konnte der Frost im Februar noch keinen Schaden anrichten, hat er jetzt die ersten offenen Blüten kalt erwischt.

Auch Roland Kuch vom Obst- und Gartenbauverein Neidlingen meldet Blütenschäden an zahlreichen Bäumen, wenn es im Tal auch noch nicht so viel geblüht habe wie in Hepsisau oder Weilheim. Er schätzt, dass rund 25 Prozent der früh blühenden Bäume kaputt sind – das aber auch nur, weil genau am Ostermontag mehrere Bäume anfingen zu blühen. „Am Ostersamstag habe ich höchstens zehn Prozent der Blüten gesehen, die geschädigt waren“, sagt er. Eindeutig zu erkennen seien geschädigte Blüten daran, dass aus dem strahlenden Weiß ein Braunton geworden ist und sich die Stängel von grün auf schwarz verfärbt haben.

 

Der Wechsel ist brutal“
Albrecht Schützinger, stellt in diesem Jahr ungewöhnlich starke Temperaturschwankungen fest.

 

Schuld daran waren Temperaturen zwischen minus fünf und minus sechs Grad in der Nacht von Ostermontag auf Dienstag. „Das kommt immer mal wieder vor, auch zu dieser Jahreszeit“, sagt Roland Kuch. Zum Vergleich zieht er das Jahr 2017 heran, als es vom 19. auf den 20. April sogar minus Grad war. Zu dem Zeitpunkt hatte allerdings schon deutlich mehr geblüht. „Das laufende Jahr ist allerdings schon etwas komisch“, sagt Kuch. Ihm sei aufgefallen, dass es nicht nur einen Tag mit extremer Kälte gegeben habe, sondern drei in Folge. Nun ziehe sich auch die Blütezeit in die Länge. Im Neidlinger Gebiet stehen  geschätzt 20 000 Kirsch-, 20 000 Birnen- und 10000 weitere Obstbäume wie zum Beispiel der Zwetschgenbaum. 

„Ein verrücktes Jahr“

Das bestätigt auch Albrecht Schützinger, Obst- und Gartenbauberater beim Landratsamt Esslingen. Er orientiert sich unter anderem an der Magnolie. „Wenn diese Pflanze Bräunungen aufweist, dann gibt es auch Schäden an Obstbäumen“, sagt er. Das hat er in den vergangenen Tagen vor allem in Hepsisau und rund um Esslingen festgestellt. Besonders die Blüten der Kirsch- und Zwetschgenbäume seien bereits offen, Birne und Apfel nur vereinzelt. Das liege auch an den sehr hohen Temperaturen im März. „Das ist ein ganz verrücktes Jahr“, sagt der Experte. Die Vegetation stehe ständig unter Vollstress, weil sich sehr hohe Temperaturen mit sehr niedrigen Temperaturen häufig abgewechselt haben und die Frostgefahr auch jetzt noch lange nicht gebannt sei. Prognosen über mögliche Ausfälle an den Obstbäumen möchte er daher nicht abgeben. „Die Natur arbeitet mit einer großen Reserve, da bleibt noch einiges übrig“, verbreitet er ein wenig Optimismus.

Den Unterschied mache, so Rudolf Thaler, ob es eine wolkige oder eine klare Frostnacht gibt. Die zweite Variante ist deutlich gefährlicher.  „Wenn am Morgen sofort die Sonne auf die gefrorene Blüte scheint, gibt es Verbrennungen.“ „Wir hoffen, dass wir gut drum herumkommen“, sagt er. Dem Wunsch dürften sich viele Obstbaumbesitzer und -freunde anschließen.

Artenreicher Lebensraum

Bedeutung: Im Landkreis Esslingen hat der Streuobstbau Tradition. Auf 9600 Hektar Fläche stehen rund 800 000 Obstbäume. Besonders prägt die Kirschblüte die Landschaft um Neidlingen und Weilheim im größten Kirschenanbaugebiet Deutschlands. In rund 300 Mostereien und Brennereien werden die Früchte zu Säften oder alkoholischen Getränken weiterverarbeitet.

Pflege: Um die Bäume kümmern sich die Mitglieder der 65 Obst- und Gartenbauvereine und deren Kreisverbände in Esslingen und Nürtingen. Lehrpfade, Sortengärten und das Freilichtmuseum Beuren bieten Informationen über Sortenvielfalt, Tradition und Kultur des Streuobstbaus.

Kulturlandschaft: Die Streuobstwiesen sichern ein hohes Maß an Biodiversität. Seltene Vogelarten, alte Obstsorten, sowie unzählige Pflanzen und Insekten machen sie zum artenreichsten Lebensraum nördlich der Alpen.  pm