Kirchheim
Ein Denkmal aus Zeilen

Lesung Tim Pröse stellt in Kirchheim „Jahrhundertzeugen“ vor, die sich gegen die Naziherrschaft stemmten.

Kirchheim. Der Literaturbeirat bietet jedes Jahr zum 10. Mai eine Veranstaltung an, um an die Bücherverbrennung 1933 zu erinnern. Diesmal war Tim Pröse eingeladen. Gastgeberin Stefanie Schwarzenbek stellt ihn und sein Werk vor. Der Gast wurde 1970 in Essen geboren, arbeitete als Journalist unter anderem bei Focus und Spiegel und lebt jetzt als freier Journalist und Autor in München. Als Verfasser von Biographien erklomm er Spitzenplätze in den Spiegel-Bestsellerlisten. So auch mit seinem mitgebrachten Werk „Jahrhundertzeugen. Die Botschaft der letzten Helden gegen Hitler. 18 Begegnungen“, das seit 2016 in fünf Auflagen und im letzten Jahr sogar als Taschenbuch erschienen ist.

Bevor er auf seinen Longseller zu sprechen kam, schlug Pröse eine Brücke zum Thema Bücherverbrennung mit dem bekannten Zitat aus Heines Tragödie „Almansor“: „Das war ein Vorspiel nur, dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man auch Menschen“.

Mit verbrannten Menschen hatte es Yehuda Bacon, des Autors erster „Held“ zu tun. Im Sommer 1944 ist Yehuda vierzehn Jahre alt und bleibt in Auschwitz am Leben, weil er zu den 90 „Birkenau Boys“ gehört, die die SS-Leute am Leben ließen, um sie in den Gaskammern arbeiten zu lassen. Sein Vater wurde verbrannt. Er selbst konnte das alles psychisch überstehen, weil er seine Begabung als Maler entdeckte. Am bekanntesten ist das Portrait seines Vaters geworden. Trotz der entsetzlichen Erlebnisse ist er im Gespräch zur Versöhnung mit Deutschland bereit: „Wenn ich zurückhassen würde, hätte Hitler doch gewonnen.“

Natürlich kamen auch prominente Opfer zur Sprache, vor allem Sophie Scholl. Pröse hat eine Freundschaft zu Sophies Schwester Inge entwickelt und kam dadurch an ganz intime Informationen über Sophies Leben und Sterben. Sophie versuchte sich nicht zu retten und starb sehr gefasst in christlichem Glauben und im Vertrauen, dass die Jugend nach der Nazizeit in einer „Revolte“ ihre Ideen verwirklichen werde. „Freiheit“ schrieb sie auf die Rückseite des Todesurteils, das ihr übergeben wurde. Angesichts des himmelschreienden Unrechts und der barbarischen Grausamkeit drängt sich die Theodizeefrage auf, die Frage, warum Gott so viel Unrecht zulässt. Im Sinn von Sophie Scholl antwortet Pröse: „Die Konsequenz der Freiheit ist das Leid“.

Eine Ikone des Widerstandes ist Berthold Beitz, der spätere Generalbevollmächtigte von Krupp. Dieser hat, ähnlich wie Schindler, unter Lebensgefahr 1500 Juden aus den Todeszügen herausgeholt, weil er sie offiziell als Arbeitskräfte in seinem Betrieb benötigte. Darunter war auch der damals 14-jährige Jurek Rotenberg. Rotenberg kehrte in hohem Alter nach Deutschland zurück, da er die deutsche Kultur sehr schätzte. Er konnte sich bei Berthold Beitz persönlich bedanken. Dies ist für Pröse die „ermutigendste“ von allen 18 Geschichten und bildete den Schluss der Beispiele.

Tim Pröse ist auf Grund seiner langjährigen Beschäftigung mit Jahrhundertzeugen und seinen gewachsenen Beziehungen zu ihnen und deren Umfeld eine natürliche Autorität, die auf seine Zuhörer wirkt. Seine Lebensbotschaft ist klar: Er möchte diesen „Helden ein Denkmal aus Zeilen setzen“. Dies zeigt er nicht nur in seinen gedruckten Zeilen, sondern auch bei der Präsentation. Er sucht intensiv den Augenkontakt mit dem Publikum. Ob er erzählt oder liest, er bewegt sich ständig durch das Publikum.

Es gibt noch viele „Helden“

Das mag bei ganz jungem Publikum, bei dem Pröse häufig auftritt, die Wirkung erhöhen. Bei den älteren Semestern wie in Kirchheim hätte er auch auf die Kraft einer „sesshaften“ Lesung vertrauen können. Seine Texte ergreifen schon beim Lesen im wahrsten Sinne des Wortes. Schließlich liest er gekonnt vor. Außerdem schafft er Abwechslung durch Bildprojektionen und Musikeinspielungen.

Dass die Zuhörerschaft ergriffen war, zeigte sich auch anschließend bei einer außergewöhnlich regen Diskussionsrunde. So wurde beklagt, dass 1945 die Täter glimpflich oder überhaupt davongekommen sind, dass heute die Demokratie von rechts bedroht wird. Pröse verwies auf die Zuversicht der Jahrhundertzeugen. Sehr eindrücklich meldete sich ein älterer Herr, der als kleiner Junge seinen Vater im KZ Ravensbrück besucht hat. Dieser Zeuge wies darauf hin, dass es noch viele „Helden“ gab, die ohne jedes wirtschaftliche Interesse dem NS-Regime Widerstand leisteten. Ulrich Staehle