Kirchheim

Ein holpriger Start

Vortrag Günther Erb sprach im Spitalkeller der Kirchheimer Volkshochschule über die Anfänge der Automobilisierung im einstigen Oberamt Kirchheim. Von Iris Häfner

Eine Herausforderung für Mensch und Maschine: die Dolomitenfahrt.
Eine Herausforderung für Mensch und Maschine: die Dolomitenfahrt. Foto: privat
Wilhelm Grimm und sein Vis-à-vis-Wagen.
Wilhelm Grimm und sein Vis-à-vis-Wagen. Foto: privat

Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten heißt ein englischer Spielfilm mit Gert Fröbe. Die tollkühnen Männer in ihren fahrenden Kisten - so könnten auch die Autopioniere in Kirchheim beschrieben werden. Des Themas angenommen hat sich Günther Erb. Er referierte im Spitalkeller der Kirchheimer Volkshochschule über die „Automobilisierung in Kirchheim“.

Fabrikant Max Weise geht in die Geschichte ein, weil er der Besitzer des ersten Automobils ist, das 1901 in Kirchheim registriert wird. Schön sieht es aus, das Automobil, kunstvoll in Szene gesetzt für den Fotografen. Sein Geld verdient Max Weise mit Flanschen und Schrauben, weshalb auch die Daimler Motorengesellschaft in Cannstatt zu seinen Kunden zählt. Dort bestellt er einen luxuriösen Wagen, ein Landaulet. Es hat ein Faltverdeck, die Fahrerbank jedoch kein Dach. Der Chauffeur ist den Unbillen der Witterung wie die Kutscher ausgesetzt. Von Anfang an läuft die Sache nicht rund, obwohl Max Weise einen Arbeiter und seinen Meister Gottlieb Hack in das Werk schickt, damit die sich mit der Technik vertraut machen können: den Feinheiten des Motors, kleineren Reparaturen - und nicht zuletzt das Fahren selbst lernen. Obwohl Max Weise einen Vollgummireifen bestellt, muss er sich mit Pneumatikreifen herumschlagen. Spitze Steine auf den Straßen sorgen für Zwangsstopps, die Schläuche zeigen durchweg Brüche. Dem nicht genug. Immer wieder kommt es zu Kurzschlüssen. Max Weise beschwert sich in einem Brief: „Das Automobil fährt recht stoßweise und schätternd. Vor ganz Kirchheim habe ich mich blamiert.“ Alles an dem Automobil scheint reparaturbedürftig. Max Weise nimmt sogar extra einen Monteur in seine Dienste, doch ein Defekt folgt dem andern.

100 Kilometer ohne Panne: Glück!

Noch 1905 gilt der von August Horch, Gründer der Automobilbauunternehmen Horch und Audi, überlieferte Satz: Wer 100 Kilometer ohne Panne zurücklegt, kann sich glücklich schätzen. Die Gefährte waren notorisch unzuverlässig und dazu noch teuer. Max Weise zieht seine Konsequenzen: Er steigt entnervt wieder auf die altbewährte Kutsche um und bleibt bis zu seinem Lebensende den echten Pferdestärken treu.

Das erste, in Kirchheimer zugelassene Auto von Max Weise.
Das erste, in Kirchheimer zugelassene Auto von Max Weise. Foto: privat

Ganz anders sieht es wenige Jahre später aus. „Es gab einen deutlichen Fortschritt in fünf Jahren“, sagt Günther Erb. 1907 werden Nummernschilder eingeführt als Folge von Wildwuchs auf den Straßen - Verkehrsrowdys und Drängler sind also kein Phänomen der heutigen Zeit. „Die haben sich damals massenhaft totgefahren“, lautet die fragwürdige Bilanz. Unfälle und Fahrerfluchten sind keine Seltenheit. Die Schilder haben System. I steht etwa für Preußen, II für Bayern und III für das Königreich Württemberg. Der Buchstabe A ist für die jeweilige Hauptstadt reserviert, also Berlin, München und Stuttgart. Die Oberämter Biberach, Blaubeuren, Ehingen, Geislingen, Göppingen und Kirchheim teilen sich X. Rund um die Teck fahren also Autos mit den Zeichen III X und einer dreistelligen Zahl zwischen 501 und 600.

Ein früher Automobilist mit Leib und Seele ist ein weiterer Fabrikant, Erich Gutekunst aus Owen. „Er war ein Autonarr und Enthusiast. Er war ein sogenannter Herrenfahrer, denn er saß selbst am Steuer“, beschreibt ihn Günther Erb. Immer in den ersten Jahren mit dabei ist eine Peitsche, um die langsamen Kuhfuhrwerke wegscheuchen zu können. Später haben seine Autos eines gemeinsam: eine große Hupe. Außerdem sehr zur Freude von Günther Erb fand ein Reisebericht über Leipzig nach Owen zurück. Die Schreiberin bezeichnet sich als „junge Dame“, ihr Name taucht jedoch nie auf, und ihre Identität ist unbekannt. Sie dokumentiert in einem Tagebuch eine elf Tage dauernde Reise von Owen nach Südtirol im Juli 1910 und schreibt immer wieder von einem Herrn G. Neben dem Ehepaar Gutekunst ist eben jene junge Dame mit von der Partie, zudem ein „blinder Passagier“. Dabei handelt es sich um den Chauffeur, dessen Dienste nicht am Steuer verlangt sind, da Erich Gutekunst sein Automobil selbst fährt. Die Künste des Mannes sind dennoch unverzichtbar, er ist der Mechaniker, der das Auto regelmäßig wartet.

Die erste Etappe führt die kleine Reisegruppe bis nach Innsbruck, die zweite nach Zell am See. Über den Millstätter See geht es in die Dolomiten. Auf den zwischenzeitlich verblichenen Fotos ist beispielsweise das Sellajoch zu sehen. Am vorletzten Tag in den Dolomiten geht es über Bozen und Meran zum Stilfser Joch. „Es ist eine tolle Reise über viele Pässe. Sie fahren zwischen 150 und 300 Kilometer pro Tag - und das bei den Straßenverhältnissen“, zollt Günther Erb den Fahrkünsten des Fabrikanten großen Respekt. In elf Tagen schafft er rund 2 000 Kilometer. „Was für ein technischer Fortschritt - in neun Jahren - im Vergleich zu Max Weise“, vergleicht der Referent. Nur ein einziges Mal gibt es einen kleinen Unfall. Das Auto kommt von der Fahrbahn ab, glücklicherweise jedoch ohne großen Schaden bei Insassen und Gefährt. Die „junge Dame“ vermerkt zweimal einen Reifenschaden, spricht in dem Zusammenhang aber von einem Pneudefekt. „Sie war weniger an der Technik interessiert, als an der Landschaft“, sagt Erb leicht bedauernd.

Wilhelm Grimm: eine Ausnahmeerscheinung

Trotz alledem hat sie die Fahrleistung des Herrn G. bewundert. „Nur im Auto, dem herrlichen Vehikel“, seien so viele, so tolle Eindrücke möglich, schwärmt die junge Dame. „Das muss das Erlebnis ihres Lebens gewesen sein“, mutmaßt Günther Erb. Von ihr ist auch zu erfahren, dass man „immer wieder Benzin gefasst“ hat, also noch nicht Tanken geht. Außerdem spricht sie von Automobilkleidung, denn sie fahren immer Cabriolet. Umziehen ist für alle Beteiligten angesagt, wenn es auf Besichtigungstour geht.

Der Dritte im Bunde der Kirchheimer Autopioniere ist Wilhelm Grimm. „Er ist eine absolute Ausnahmeerscheinung, ein ausgesprochenes Tüftele“, zollt Günther Erb diesem Mann seinen Respekt. Grimm hat ein Installateurgeschäft, vermutlich ist er der Erste, der in Kirchheim Autos repariert. Das erste Gefährt Grimms ist ein Vis-à-vis-Wagen, quasi eine Kutsche mit Motor. Auch er hält den denkwürdig-fortschrittlichen Moment mit Frau Luise und Tochter Martha auf einem Foto fest. Der Erste Weltkrieg markiert einen weiteren wichtigen Schritt in seinem persönlichen und beruflichen Leben. Er wird zur Reichswehr eingezogen und unter anderem als Auto-Kurierfahrer eingesetzt. Ein komfortables Fahrzeug ist auf einer Fotografie zu sehen, es befördert einen Offizier. Später ist er mit einem Werkstattwagen unterwegs, um liegengebliebene Fahrzeuge flottzumachen. Noch vor Kriegsende kommt er 1917 nach Kirchheim zurück und gründet wenig später die heute noch bestehende Firma Apparatebau Kirchheim mitten in der Stadt. Sein Herz schlägt weiterhin für Autos, wie viele Fotos beweisen. „Es sind rasante Modelle. Was außerdem auffällt: Die Lenkräder sind immer rechts - und irgendwann links. Die Umstellung muss etwa Mitte der 20er-Jahre erfolgt sein“, sagt Erb. Seine Vermutung: Durch die Zunahme des Verkehrs ist der Straßengraben, in den man abrutschen könnte, in den Hintergrund gedrängt worden, der Gegenverkehr ist wichtiger. Etwa um das Jahr 1930 leistet sich Wilhelm Grimm die erste Limousine. „Der Mann ist älter geworden, und Reisewagen sind immer mehr in Mode gekommen“, vermutet Günther Erb als Grund für den Umstieg auf ein seriöses Modell.

Wenn dem Elektrolaster der Schnaufer ausgeht

Eine Sonderstellung bei der Automobilisierung nach dem Krieg nahmen die Elektrolastwagen ein, produziert wurden sie beispielsweise bei der Maschinenfabrik Esslingen. Die Nutzlast betrug 2,5 Tonnen, allerdings war ihre Reichweite - wie heute noch - begrenzt. Die Kirchheimer Firma Helfferich, damals in der Nähe des Südbahnhofs beheimatet, besaß solch einen Lkw. Das Modell 3001 wurde im Stadtverkehr eingesetzt und leistete dabei gute Dienste. Allerdings war einmal pro Woche eine Fahrt nach Stuttgart nötig. „Auf dem Heimweg ging dem Lkw nach dem Freitagshof immer der Schnaufer aus.

Nach drei bis vier Stunden hatten sich die Batterien so weit erholt, dass sie den Aufstieg bis zum Hohenreisach vollends schafften. Die Abfahrt auf der Plochinger Steige und die Fahrt durch die Stadt liefen von alleine“, weiß Erb vom damaligen Elektromeister der Firma, Fritz Maier. Nachts wurden die Batterien in der Firma mit Eigenstrom wieder aufgeladen, der im eigenen Turbinenhaus am Wehrkanal mit einer Turbine und zwei Generatoren erzeugt wurde. Und was hat der Fahrer in der drei bis vier Stunden dauernden Pause beim Freitagshof gemacht? „Bei schönem Wetter legte er sich ins Gras oder las im Fahrerhaus ein Buch, wenn es regnete“, sagte Günther Erb - was für Zeiten. ih