Kirchheim

Eindrucksvolle Präsenz

Konzert Gefeiertes Gastspiel des Schlippenbach-Trios in der Kirchheimer Bastion

Kirchheim. Wer seit fast 45 Jahren gemeinsam musiziert, beeindruckt schon aufgrund seiner künstlerischen Langlebigkeit. Weit entfernt, sich auf einem etwaigen Alters-Bonus auszuruhen, schöpfte das Schlippenbach-Trio in seiner aktuellen Besetzung mit Paul Lytton am Schlagzeug aus einem reichen Fundus. Bei seinem Gastspiel im Kirchheimer Club Bastion verhalf das Ensemble der Kunst der freien Improvisation zu einem Niveau, das weit über jede nur situativ gegriffene Klanglichkeit hinausreichte.

Frevelhaft wäre es, Lytton als Ersatzmann für den erkrankten Paul Lovens zu titulieren. Erstens ist Lovens, der über einen unnachahmlich kleingliedrigen Personalstil verfügt, ohnehin nicht zu ersetzen. Und zweitens ist Lytton mit Pianist Alexander von Schlippenbach und Saxofonist Evan Parker bereits lange und vielfältig verbunden: „collective calls“, sein kongeniales Duo-Album mit Evan Parker, entstand nur wenige Tage nach den ersten Aufnahmen des Schlippenbach-Trios im April 1972. Formationen wie das ­„Globe Unity Orchestra“ oder „Transatlantic Art Ensemble“ bilden weitere Schnittmengen der musikalischen Wirkungskreise.

Insofern dürfte Lytton einer der wenigen Schlagzeuger sein, die sich der spezifischen Improvisationskultur dieses Trios bereichernd einverleiben können. Ohne auf Blickkontakte oder abgesprochene Schablonen angewiesen zu sein, allein dem Hören und dem eigenen Musizieren als Reaktion und Weitergestaltung des Spiels der Mitstreiter gewidmet, entwickelte das Trio einen Klangstrom changierender energetischer Momente. Gegenüber Harmonik und Melodik standen Rhythmus und Dynamik klar im Vordergrund.

Eruptive Gesten und Phasen kathartischer Intensität wechselten mit kontemplativen Atempausen. Und aus diesen Zonen des Innehaltens vollzog sich wiederum der nächste Richtungswechsel, der – einmal Kontur gewonnen – mit komprimierter Beschleunigung durchschlug. Durchdrungen von einem großartigen Sinn für Ökonomie und Proportion schienen die Akteure den weiteren Gang der musikalischen Textur schon einen Tick eher zu erahnen, als er klanglich manifest wurde.

Auch das verwandelnde Anzitieren fest stehender Topoi der Jazztradition, das motivische Knobeln mit Kadenzwendungen und der Hörerwartung des Publikums machte erlebbar, mit welch plastizierender Kraft die Musiker ihr Material handhaben. So verschmolz das Trio zu einer Einheit dreier profilierter Positionen, in der Aktion und Reaktion in ihrer Gegensätzlichkeit aufgehoben wurden.

Was Anfang der 1970er-Jahre als revolutionärer Aufbruch begann, ist längst Teil der Tradition geworden. Diese Dialektik der Avantgarde schien Alexander von Schlippenbach mit seiner Solo-Zugabe aufzugreifen. Durch den atonalen Schliff seiner Improvisation hindurch ließ der Meister der „Twelve-Tone-Tunes“ Charaktere von Ragtime und Harlem Stride anklingen. Eine geistreiche Melange, an der auch Thelonious Monk seine Freude gehabt hätte, dessen „Genius of Modern Music“ als heimlicher Pate des Konzertabends zu fungieren schien.

Man mag sich fragen, wie ein Ensemble, das über eine so lange Kontinuität der Spielpraxis verfügt, sich stets aufs neue offen geben, den eigenen Output frisch und unverstellt halten kann, ohne in vorgefertigte Muster zu verfallen. Der Ansicht, der freie Improvisationsprozess müsse zwangsläufig von den gemachten Spielerfahrungen eingeschränkt und belastet werden, tritt Alexander von Schlippenbach entgegen: „Es bilden sich Klischees heraus, die von der Erwartung her eintreffen mögen“, äußerte er sich einmal in einem Interview. „Wenn man es aber fertig bringt, durch solche Phasen hindurchzugehen und sich kritisch genug damit auseinandersetzt, dann kann man einen Schritt weiterkommen. Und dann kriegt die Musik plötzlich einen festen Boden unter den Füßen, der ihr sonst erst mal fehlt.“

Eine erarbeitete innovative Qualität also, die beim gefeierten Gastspiel des Schlippenbach-Trios in der Bastion zu eindrucksvoller, intensiver Präsenz gelangte.Florian Stegmaier