Kirchheim
Einen Schulplatz gibt es nicht

Jugendhilfe Im vergangenen Jahr sind wieder deutlich mehr Minderjährige aus Syrien und Afghanistan nach Kirchheim gekommen. Um sie zu versorgen, muss die Stiftung Tragwerk improvisieren. Von Antje Dörr

Im Mehrgenerationenhaus Linde sitzen rund 15 Jugendliche aus Syrien und Afghanistan und stecken die Köpfe zusammen. Es ist 9 Uhr am Vormittag, Schulzeit. Auf einem Flipchart stehen die Buchstaben des Alphabets, zwei Fachkräfte gehen herum und unterstützen bei den ersten Gehversuchen in der deutschen Sprache. Was wie Unterricht aussieht, ist ein Angebot von Stiftung Tragwerk und Mehrgenerationenhaus Linde, das aus der Not geboren ist: Die VKL-Klassen an Schulen, in denen jugendliche Geflüchtete eigentlich Deutsch lernen, sind proppenvoll, größtenteils mit ukrainischen Jugendlichen. Wer jetzt nach Deutschland flieht, schaut in die Röhre. Dass der Flüchtlingsstrom aus anderen Regionen der Welt nicht abreißt, darauf ist man im Kultusministerium offenbar nicht ausreichend vorbereitet. 

 

Man merkt, dass sie hier ankommen und sich integrieren wollen.
Jutta Ziller, Mehrgenerationenhaus Linde

 

UMA, unbegleitete minderjährige Asylbewerber, so nennt man die Jugendlichen, die ohne ihre Eltern nach Deutschland gekommen sind. Alle, die an diesem Morgen im improvisierten Klassenzimmer sitzen und lernen, leben in Wohngruppen oder Jugendwohngemeinschaften der Stiftung Tragwerk – je nach Alter und Entwicklungsstand mit Vollzeitbetreuung oder etwas mehr Autonomie. Als im November ein ganzer Schwung Minderjähriger in den Landkreis kam, gab es das Angebot im Mehrgenerationenhaus Linde noch nicht. Das Resultat: Die Jugendlichen saßen vormittags gelangweilt in ihren Wohngruppen. „Das ist verlorene Zeit“, sagt Jutta Ziller. Außerdem kam das gesamte Betreuungssystem der Stiftung Tragwerk ins Wanken: In der Regel sind vormittags keine pädagogischen Fachkräfte in den Wohngruppen, weil die Jugendlichen in die Schule gehen. Um die UMA zu betreuen, mussten viele Überstunden geleistet werden. Umso größer war die Erleichterung, als das Mehrgenerationenhaus Linde Räume und einen FSJler zur Verfügung stellte. Seit dem 9. Januar ist endlich Schluss mit Langeweile.

Schulpflicht, die gibt es beim improvisierten Unterricht natürlich nicht. Aber die Anwesenheitsquote sei hoch, sagt Alexander Heer von der Stiftung Tragwerk. Er und Jutta Ziller, die das Mehrgenerationenhaus Linde leitet, sind begeistert von der Motivation der Jugendlichen. „Sie sind höflich und freundlich. Man merkt, dass sie hier ankommen und sich integrieren wollen“, sagt Ziller. Deutschlernen steht zwar im Mittelpunkt, aber die Tragwerk-Mitarbeiter Steffen Iwwerks und Baschira Badaoui gehen mit den Jugendlichen auch raus in die Stadt, zeigen ihnen das Rathaus, die Bücherei und andere Orte, die sie brauchen in ihrem neuen Leben. „Die Linde ist natürlich gut als zentraler Ort, an dem die Jugendlichen auch in Kontakt mit anderen Jugendlichen kommen können“, sagt Jutta Ziller. Außerdem seien Beratungsangebote wie das Chai-Büro im Haus, das später als Anlaufstelle wichtig werden könnte.

Improvisierter Unterricht: Im Mehrgenerationenhaus Linde bringen Tragwerk-Mitarbeiter den jungen Syrern und Afghanen erste Deutschkenntnisse bei. Foto: Carsten Riedl

Der Satz „Nichts hält länger als ein Provisorium“ könnte auch auf den improvisierten Unterricht in der Linde zutreffen. Dabei sehen Jutta Ziller und Alexander Heer die Zuständigkeit für die Bildung der UMA ganz klar bei den Schulen. „Wir rechnen allerdings nicht damit, dass die Jugendlichen vor den Sommerferien einen Schulplatz bekommen“, sagt Ziller. 

Nicht nur die Bildung, auch die Unterbringung der minderjährigen Flüchtlinge ist ein Problem, sagt Jürgen Knodel, Vorstandsvorsitzender der Stiftung Tragwerk, die in Kirchheim, Nürtingen und dem Umland für die Inobhutnahme zuständig ist. Aktuell gelinge es in Kirchheim noch, die Jugendlichen im Rahmen von Jugendhilfestandards unterzubringen. Allerdings glaubt er, dass die Zahl der UMA weiter steigen wird. Auch die Zahl deutscher oder europäischer Jugendlicher, die nicht in ihren Familien bleiben können, ist im vergangenen Jahr gewachsen. Schon bald wird es deshalb an Räumen fehlen, und Mitarbeiter gibt es schon heute nicht genug. „Wir, und auch viele andere Einrichtungen, haben ein großes Fachkräfteproblem“, sagt Knodel. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seien erschöpft. „Sie leisten Bewundernswertes, gehen über ihre Grenzen“, zollt der Tragwerk-Chef seinem Team Respekt.

2015, in jenem Jahr, als Menschen in großer Zahl nach Deutschland flohen, musste die Stiftung Tragwerk 120 UMA unterbringen. Aktuell sind es 37 Minderjährige. Nicht so dramatisch, könnte man meinen. Allerdings gibt es die räumlichen und personellen Kapazitäten, die 2015 mühsam aufgebaut werden mussten, zum Teil nicht mehr. Während eine neue Welle anrollt, fängt die Stiftung Tragwerk also wieder von vorne an. „Wir wünschen uns eine Verstetigung“, sagt Jürgen Knodel. „Angesichts der vielen Krisen in der Welt muss man Mitarbeiter vorhalten.“ Von der Politik, die sich aktuell auf Landesebene mit dem Problem befasst, fordert der Vorstandsvorsitzende der Stiftung Tragwerk „personelle und finanzielle Unterstützung für die Schaffung von Betreuungsangeboten, auch für die Finanzierung von Vorhalteangeboten“. 

Dringend benötigt werden Menschen, die bereit sind, sich als Paten, Lernhelfer oder Sprachhelfer für Flüchtlinge zu engagieren. Gesucht werden auch Wohnungseigentümer, die der Stiftung Tragwerk ihre Wohnungen vermieten. „Es ist wichtig, dass wir diesen Jugendlichen einen Platz bieten, wo sie Verlässlichkeit und Sicherheit erfahren“, sagt Knodel. „Viele haben Verlust und Gewalt erlebt.“