Kirchheim

Es fehlt am politischen Willen

Armut Komplizierte Regeln machen es Menschen in schwierigen Lagen schwer, Unterstützung zu erhalten. Die unabhängige Hartz-IV-Beratung hilft. Von Alexander Maier

Der Gang zum Jobcenter ist für viele Menschen demütigend und frustrierend. Mit der unabhängigen Hartz-IV-Beratung haben sie eine
Der Gang zum Jobcenter ist für viele Menschen demütigend und frustrierend. Mit der unabhängigen Hartz-IV-Beratung haben sie einen starken Beistand an der Seite. Archiv-Foto: Jean-Luc Jacques

Die Würde des Menschen ist unantastbar“, heißt es in der Verfassung. Doch wenn der Armutsexperte Frieder Claus die Situation vieler Hartz-IV-Empfänger im Kreis Esslingen betrachtet, kommen ihm Zweifel, ob der erste Grundgesetz-Artikel wirklich für alle gilt. Claus weiß, dass bedürftige Menschen in unserer Gesellschaft einen immer schwereren Stand haben. Und er bringt seine Kritik auf den Punkt: „Hartz IV ist ein schwerer Angriff auf die Menschenwürde.“ Das kann er mit vielen Beispielen aus der Praxis belegen: Claus kümmert sich um Menschen, die Probleme mit dem Jobcenter haben oder die schlicht mit all den bürokratischen Hürden, die das Sozialgesetzbuch II aufgebaut hat, nicht klarkommen. Frieder Claus ist einer von 15 Experten, die in elf Beratungsstellen im Landkreis unter der Regie der Liga der freien Wohlfahrtspflege unabhängige Hartz-IV-Beratung anbieten - ein Service, der immer wichtiger wird.

Als Geschäftsführer der Diakonie und Vorsitzender der Liga im Landkreis weiß Eberhard Haußmann, dass Wohlstand eine Kehrseite hat: „Die Wirtschaft blüht, und trotzdem steigt das Armutsrisiko. Es wäre möglich, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen, doch dazu fehlt es am politischen Willen.“ Das Sozialgesetzbuch II regelt, welche Hilfen Menschen in schwierigen wirtschaftlichen Situationen in Anspruch nehmen können. Doch ganz so selbstverständlich ist das in der Praxis nicht. Die gesetzlichen Regelungen sind kompliziert, ein Hartz-IV-Antrag ist länger als eine Steuererklärung und arbeitet mit Begriffen, die sich dem Laien oft nicht erschließen. Selbst Jobcenter-Mitarbeiter stoßen nach Haußmanns Erfahrungen bisweilen an ihre Grenzen, weil es vielen an Erfahrung fehle und weil die personelle Fluktuation in der Behörde groß sei. „Die Hälfte der Sachbearbeiter ist nach zwei Jahren nicht mehr da“, hat Claus beobachtet.

"Bei uns genügt ein kurzer Anruf"

Deshalb hat die Liga der freien Wohlfahrtspflege 2013 eine unabhängige Hartz-IV-Beratung eingerichtet. Auf Zuschüsse wird bewusst verzichtet, um Interessenkonflikte gar nicht erst aufkommen zu lassen. Er ist sich mit Brigitte Chyle, Fachleiterin Soziale Hilfen der Caritas Fils-Neckar-Alb und Vize-Chefin der Liga im Landkreis, einig, dass dieses Angebot unerlässlich ist. „Wir wollen, dass Menschen, die auf Hartz IV angewiesen sind, der Behörde auf Augenhöhe begegnen“, sagt Chyle. Ohne die unabhängigen Berater sei das schwieriger, weil der einzelne Jobcenter-Kunde in Leistungsfragen nicht mal seinen direkten Ansprechpartner kenne. „Bei uns genügt oft ein kurzer Anruf“, weiß Frieder Claus. Das nütze auch der Behörde: „Unsere Arbeit richtet sich gegen niemanden - wir sind für die Menschen da. Vieles, was in aufwendigen Rechtsstreitigkeiten geklärt werden müsste, kann man unproblematisch regeln.“ Fast drei Viertel aller Fälle werden gütlich beigelegt.

An Arbeit fehlt es Frieder Claus und seinen Kollegen nicht. In zwei Dritteln aller Fälle fühlen sich Kunden vom Jobcenter nicht ausreichend informiert, in einem Drittel aller Fälle ist Hilfe beim Ausfüllen der Formulare nötig. 15 Prozent der Kunden brauchen Beistand bei der Formulierung von Anträgen.

Zu den ganz großen Themen gehören Unstimmigkeiten bei den Wohnkosten, die vom Jobcenter anerkannt werden: Günstiger Wohnraum ist hierzulande immer rarer, die Mietobergrenzen, die die Behörde akzeptiert, reichen oft nicht aus. „Sehr enttäuschend ist, dass Jobcenter und Landkreis weiterhin die rechtswidrigen Obergrenzen anwenden, zumindest solange die Betroffenen sich nicht wehren“, heißt es im Jahresbericht der unabhängigen Hartz-IV-Beratung im Landkreis, die vor allem eines möchte: ihren Klienten den Rücken stärken. Denn Frieder Claus und seine Mitstreiter wissen: Wenn Menschen ständig in Existenzprobleme geraten, werden sie frustriert und entmutigt. Das sind keine guten Voraussetzungen, um wieder Arbeit zu finden und unabhängig von Hartz IV zu werden.