Kirchheim

Familienplanung endlich erfolgreich

Vögel Eine kleine Kolonie von Graureihern ist seit diesem Frühjahr auf dem Alten Friedhof in Kirchheim heimisch. In drei Nestern haben sie ihren Nachwuchs großgezogen. Von Iris Häfner

Keck recken die zwei Graureiher ihre Köpfe in den Himmel.Foto: Wulf Gatter
Keck recken die zwei Graureiher ihre Köpfe in den Himmel. Foto: Wulf Gatter

Da sitzen sie, hoch oben auf der Kiefer auf dem Alten Friedhof in Kirchheim: Graureiher - und nicht nur einer, sondern eine ganze Kolonie. Drei Nester sind auf dem Baum bei genauerem Hinschauen zu entdecken, und noch konzentrierter muss der Betrachter den Blick nach oben richten, um die großen Vögel tatsächlich in luftiger Höhe zu entdecken. Da hilft es außerordentlich, dass ein Altvogel im Anflug ist. Er dreht eine kleine Ehrenrunde, um den richtigen Anflugwinkel zum Nest zu haben. Vom Nachwuchs wird er schon sehnsüchtig erwartet, lautes Reihergeschrei ist zu hören, ehe die Mahlzeit im langen Schnabel übergeben wird.

Die Freude bei den Ornithologen ist groß. „Frühere Brutversuche waren aus ungeklärten Gründen nicht erfolgreich“, erklärt der Kirchheimer Vogelexperte Dr. Wulf Gatter. Jetzt sind es gleich drei Nester auf einen Schlag. Lange Zeit waren die großen Vögel in Deutschland nahezu ausgestorben. Den Silberreiher fast komplett ausgerottet hat die Mode. Die Damen von Welt schmückten einst ihre Hüte mit den dekorativen Federn. Der Graureiher wurde als Nahrungskonkurrent gesehen und bejagt. Neben Fischen bereichern unter anderem Mäuse und Frösche, aber auch Insekten seinen Speiseplan. Etwa Ende der 70er-Jahre tauchten die ersten Exemplare wieder im Südwesten auf, beispielsweise im Seeburger Tal bei Bad Urach. Im Laufe der Zeit wurden es immer mehr. Zwischenzeitlich ist der Anblick von mausenden Reihern auf Wiesen ein gewohnter Anblick.

Dass sich etwas auf dem Alten Friedhof tut, dafür gab es einige Indizien: reger Flugverkehr, lautes Geschrei - und Hinterlassenschaften. „Die Reiher hätten sich keinen besseren Brutplatz aussuchen können“, sagt Wulf Gatter. Weiße Kotflecken zieren Baumstamm, Gras, Hecke und nur wenige Gräber. Eines davon ist das der Familie Berroth und Grund für Gatters besondere Freude. Christian Berroth, geboren 1884 und 1967 gestorben, war über Jahrzehnte der Vogelvater Kirchheims. Gelebt hat er in der schönen Villa in der Unteren Steinstraße. Über die gesamte Länge einer Seitenfront waren große Volieren angebracht, in denen seine Findelkinder leben durften, die nicht mehr in der Lage waren, in Freiheit leben zu können. Manches Kind fand den Weg zum Vogeldoktor, einen kranken Spatz oder andere Piepmätze in der Hand. Die Berroth-Villa war Treffpunkt namhafter Ornithologen und Vogelschützer. Einer davon war Hermann Hähnle, Erfinder und Naturfilmer. Seine Mutter, Lina Hähnle, hatte 1899 in Stuttgart den „Bund für Vogelschutz“ (BfV) gegründet, den Vorläufer des heutigen Nabu. Nach der Naziherrschaft baute Hermann Hähnle den BfV als dessen Präsident wieder auf.

Die jungen Kirchheimer Graureiher werden ihre ersten Flugversuche in den nächsten Tagen also an perfekter Stelle starten können. Die Kiefer ist gut gewählt - sie ist hoch, hat eine lichte Krone mit waagrechten Ästen. „Da ist der Abflug einfach“, begründet der Experte die Wahl. Friedhöfe sind wie Zoos und Parks beliebte Kolonie­standorte der grauen Vögel. „Dort herrscht Ruhe, und es gibt einen gewissen Schutz“, erklärt Wulf Gatter. In der Regel finden sich drei Eier in einem eher schlampig gebauten Horst. Von der Größe sind sie mit Gänseeiern vergleichbar. Die Brutzeit beträgt etwa 25 Tage, dann dauert es weitere 50 Tage, bis sich die Jungtiere in die Lüfte wagen. Manche zieht es im Erwachsenenalter zum Überwintern in den Süden, andere bleiben im Lande. „Bei geschlossener Schneedecke und zugefrorenen Gewässern erleiden sie zum Teil sie heftige Verluste“, sagt Wulf Gatter. Hochspannungsleitungen aller Art sind für die Vögel wegen ihrer großen Flügelspannweite von etwa 1,7 Metern ebenfalls eine häufige Todesfalle.

„Für mich ist es eine tolle Sache, dass eine Großvogelart mitten in Kirchheim brüten kann“, freut sich Wulf Gatter - und nicht nur er. Mancher Friedhofbesucher erweitert derzeit seine Gießrunde und hält nach der Kinderstube Ausschau.