Kirchheim
Für den Kirchheimer Simon Specht besteht Europa  aus vielen Realitäten

Politik Der Kirchheimer Simon Specht hat auf einem Forum in Straßburg über Migration diskutiert und versteht die Herausforderungen der EU nun besser. Von Thomas Zapp

Der Anruf in gebrochenem Deutsch klang mysteriös: „Wir laden Sie zur Teilnahme an einer Konferenz in Straßburg und Maastricht ein, die Kosten für Anreise, Verpflegung und Unterkunft werden übernommen.“ Ein Trick? „Ich dachte erst, das wäre ein Fake, ich wusste auch gar nicht, wo sie meine Nummer her hatten“, sagt der Kirchheimer Simon Specht lachend. Er steckte im Herbst gerade mitten in seiner Bachelor-Arbeit, wurde aber trotzdem neugierig und informierte sich im Internet. 

Tatsächlich: Die „Konferenz zur Zukunft Europas“, ein europäisches Bürgerforum gab es wirklich. Insgesamt 800 Menschen aus der gesamten EU sind eingeladen worden, gemeinsam zu diskutieren. Simon Specht hat die Einladung schließlich angenommen und konnte als einer von 108 deutschen Teilnehmerinnen und Teilnehmern vom 15. bis 17. Oktober im Europaparlament in Straßburg über die „EU in der Welt“ und das Thema Migration diskutieren. Zur Vorbereitung gab es ein Handout mit Basisinformationen.

„Komplett andere Probleme“

Lieber hätte er am Forum für eine „stärkere Wirtschaft“ und „digitalen Wandel“ teilgenommen, doch seine Präferenzen wurden zwar abgefragt, sind aber nicht berücksichtigt worden. Der Austausch mit Menschen aus anderen Teilen Europas hat dem Kirchheimer, der bislang politisch noch nicht aktiv war, aber viele Erkenntnisse gebracht, etwa dass die Lebenswirklichkeiten und politischen Schwerpunkte in anderen Teilen Europas ganz woanders liegen. „Wir hatten zwei ältere Teilnehmer aus Italien und Spanien, die waren energisch gegen Migration und hatten Positionen, die hier als rechts gelten würden“, erzählt Simon Specht. Der Spanierin habe etwa das Thema Familienförderung viel stärker am Herzen gelegen, als Menschen aus anderen Ländern zu integrieren. Kein Wunder: Kindergeld gibt es dort so gut wie gar nicht, die Geburtenrate ist eine der niedrigsten in ganz Europa. „Die haben komplett andere Probleme“, sagt Simon Specht.

Was er am Forum bemängelt, ist der große Anteil von Akademikern, jüngeren und älteren Leuten, viele pensionierte Lehrer hat er getroffen. „Berufstätige Menschen im mittleren Alter gab es weniger. Ein Familienvater mit vier Kindern hat mir erzählt, wie schwierig es war, das Wochenende zu organisieren.“ Auch waren seiner Ansicht nach Angehörige schwächerer sozialer Schichten nicht vertreten. Anscheinend haben auch die Bürgerforen in puncto Repräsentation aller Bevölkerungsgruppen mit ähnlichen Problemen zu kämpfen wie die Parlamente. Schwierig sei in seinem Workshop am Ende die Auswahl der fünf wichtigsten Themen für das dritte Forum im Feb­ruar in Maastricht gefallen: Ist es wichtiger, Grenzen zu schützen oder Lösungen für die Migration in die EU zu finden, die angesichts des demografischen Wandels auch wichtig ist? „Es war schwierig, sich zu einigen. Die Stimmung war zum Teil aufgeheizt“, erinnert er sich. Auch hier bekam er einen Eindruck, wie mühsam die parlamentarische Arbeit sein kann: „Ich hab jetzt mehr Verständnis, wenn eine Entscheidungsfindung innerhalb der EU ins Stocken gerät.“

Kritisch sieht er nach wie vor die Struktur der EU: Den Apparat sehe ich sehr kritisch“, sagt er. „Man müsste mehr Bürger involvieren und mehr Verständnis dafür herstellen, was sie machen.“ Auch die Entscheidungsfindung im EU-Parlament hält er für zu träge. „Das Verfahren mit den Vetos müsste geändert werden“, meint er. Und Europa müsse sich mehr Autonomie in Bezug auf wichtige Güter und Rohstoffe verschaffen, um sich gegenüber anderen Mächten wie den USA oder China zu behaupten. Den Chipmangel erlebt er beim Optikunternehmen Zeiss in Oberkochen, wo er mittlerweile arbeitet. Technologisch sei die Unabhängigkeit möglich. „Die wirtschaftliche Unfreiheit ist unnötig“, ist er überzeugt.

Dennoch hat das Format dem Kirchheimer Studenten gefallen, bei der nächsten Sitzung in Maastricht ist er wieder dabei: „Ich glaube, die Menschen würden Entscheidungen mehr akzeptieren, wenn sie wüssten, dass darüber normale Bürger mehrheitlich abgestimmt haben“, glaubt er. Simon Specht wünscht sich, dass das Forum auch künftig alle ein bis zwei Jahre zusammenkomme, um zu schauen, welche Vorschläge umgesetzt wurden. Denn davon ist der Kirchheimer nach wie vor überzeugt: Europa lohnt alle Mühen. „Wir müssen in Europa keine Angst haben, von einem anderen Land angegriffen zu werden. Das ist ein Riesengut.“ Es sieht so aus, dass sich Simon Specht über einen erneuten „mysteriösen“ Anruf freuen würde.