Kirchheim
Hermann Hesse und die Stechmückenplage an der Stadtmauer

Forschungsarbeit  Der neue Archäologische Stadtkataster gibt Auskunft über die Siedlungs- und Häusergeschichte Kirchheims – und indirekt auch über Hermann Hesses Suchtverhalten als Raucher. Von Andreas Volz

Ein bedeutendes Werk liegt jetzt druckfrisch vor: der Archäologische Stadtkataster für Kirchheim. Die Bedeutung des 400-Seiten-Werks einschließlich der sechs dazugehörigen Karten kann gar nicht hoch genug eingeschätzt
 

Erst haben wir den Preis bekommen, und  jetzt liegt das dazu­gehörige Werk vor.
Rainer Laskowski
über die Reihenfolge von Archäologie-Preis und Stadtkataster

werden. Kirchheims Stadtarchivar Frank Bauer sagte bei der Pressevorstellung: „Man kann künftig nicht mehr über Kirchheims Stadtgeschichte reden, ohne dieses Buch zu kennen.“ Siedlungsgeschichte und Häusergeschichte sind hier zusammengeführt.

Der Stadtkataster hat auch für die Gegenwart seine Bedeutung, wie Birgit Kulessa vom Landesamt für Denkmalpflege betont: „Das ist ein wichtiges Nachschlagewerk für alle Baustellen in der Stadt.“ Damit wisse jeder Bauherr schon im Vorfeld, wo er beispielsweise mit Resten der Stadtmauer zu rechnen hat. Die Historikerin Rosemarie Reichelt, deren Arbeit zur Kirchheimer Häuserforschung mit eingeflossen ist in das neue Werk, ergänzt: „Es ist auch für die Stadtplaner wichtig, sich diesen Band immer wieder vorzunehmen für ihre tägliche Arbeit.“

Vor allem ist in den Stadtkataster die Arbeit der Kirchheimer Archäologie-AG eingeflossen. Frank Bauer sieht in dem druckfrischen Band eine Würdigung der Leistung dieser Arbeitsgemeinschaft. Günther Frey, einer von rund 60 ehrenamtlichen Mitarbeitern der AG, freut sich über die Würdigung: „Damit ist unsere Arbeit in den vergangenen 38 Jahren dokumentiert.“ Für den AG-Leiter Rainer Laskowski ist der neue Stadtkataster das Werk, das den Archäologie-Preis für seine AG aus dem Jahr 2018 komplettiert: „Normalerweise hätte die Reihenfolge umgekehrt sein müssen. So haben wir halt zuerst den Preis bekommen, und jetzt liegt das dazugehörige Werk vor.“

„Unglaublich viele Fundstellen“

Birgit Kulessa kann sich dem nur anschließen: „Wir haben unglaublich viele Fundstellen in Kirchheim, weil da so viel dokumentiert wurde.“ Eine vergleichbare Fülle an Material gebe es nur in wenigen Städten in Baden-Würt­temberg – in Tübingen etwa oder in Ulm. Was sie sich für die Zukunft wünschen würde, wäre eine Auswertung der Funde. Im Archäologischen Stadtkataster sieht sie unter anderem eine Fundgrube für künftige wissenschaftliche Arbeiten: „Auf der Suche nach einem Dissertationsthema wird man hier auf jeden Fall fündig.“

Ohnehin werfe der jüngste Band des Archäologischen Stadtkatasters Baden-Württemberg – Band 43 „Kirchheim unter Teck“ – mehr Fragen auf, als er Antworten gibt. Sofort beginnt die Diskussion über Teilaspekte wie den Stuckeringraben, der östlich der Altstadt verläuft und sich bis zum Gaiserplatz hinzieht. Längst ist der Graben verfüllt. Aber seine einstige Bedeutung ist noch nicht enthüllt: War es ein Befestigungswerk, das im Zusammenhang mit den Klos­terbelagerungen Graf Eberhards des Jüngeren Ende des 15. Jahrhunderts zu sehen ist? Oder diente der Stuckeringraben eher der Bewässerung des Grabens rund um die Stadtmauer? Für Rainer Laskowski steht fest: „Diese Bewässerung war ein großes Problem. Schließlich gibt es da einen Höhenunterschied von vier Metern, und deshalb gab es auch Schleusenanlagen.“

Schon entsteht die nächste Diskussion im Expertenkreis: Wie lange und wie hoch war der Graben an der Stadtmauer gefüllt? Rainer Laskowski steuert Überlieferungen Hermann Hesses bei. Der spätere Literaturnobelpreisträger habe 1899 bei seinem Besuch in Kirchheim vor allem deshalb so viel geraucht, weil er sich der Stechmücken erwehren wollte. Im flachen, sumpfigen Stadtgraben am damaligen Gasthaus Krone hätten diese Plagegeister ideale Brutbedingungen vorgefunden.

Als ein wichtiges archäologisches Thema in Kirchheim nennt Birgit Kulessa die Nachgeburtstöpfe aus der Zeit nach dem 30-Jährigen Krieg: „Da war zunächst gar nicht klar, was das überhaupt darstellen soll. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie man den wissenschaftlichen Wert von archäologischen Funden nach und nach erst einmal erkennen muss.“

Rainer Laskowski zeigt sich besonders erfreut darüber, dass nun auch die Mittelalterarchäologie in Kirchheim entsprechend dokumentiert ist: „Das stand zu Beginn der Arbeit unserer AG noch gar nicht im Mittelpunkt des Interesses. Die Archäologie ging damals nur bis zu den Alamannen.“ Der wesentliche Grund dafür: Nach der Alamannenzeit be­ginnt die Geschichte, weil von da an his­torische Dokumente vorliegen.

Das ist auch bei der Kirchheimer Stadtgeschichte von 2006 die Grenze zwischen Archäologie und Geschichte. Letztere beginnt dort mit der ersten urkundlichen Nennung Kirchheims im Jahr 960.

 

Die Buchpräsentation erfolgt am 16. März

Der Archäologische Stadtkataster über Kirchheim ist Band 43 in der Reihe, die das Landesamt für Denkmalpflege herausgibt. Beim neuen Band handelt es sich um die Fortführung eines unveröffentlichten Werks aus dem Jahr 1998, das Rainer Laskowski zufolge der Pilotband zu den Stadtkatastern hätte werden sollen. „Eigentlich ist es gut, dass damals nichts daraus wurde. Sonst hätte es jetzt dieses umfangreiche Werk nicht gegeben.“

Der Kataster – auch „das Kataster“ ist möglich – gibt auch anhand des umfangreichen Kartenmaterials Auskunft über archäologische Fundstellen in Kirchheim sowie über die Siedlungs- und Häusergeschichte. Eine wichtige Grundlage dafür ist ein Kataster aus dem Jahr 1823 sowie die dazugehörige Karte von 1828. Anhand historischer Urkunden lassen sich über die fälligen Zinsabgaben Häuser und deren Besitzer genau zuordnen. Die Abgaben blieben über Jahrhunderte hinweg unverändert und wurden erst Anfang des 19. Jahrhunderts abgeschafft.

Der Vorgängerband mit der Nummer 42 beschäftigt sich mit Bad Mergentheim. Das merkt man auch dem Kirchheimer Band wegen eines kleinen Schönheitsfehlers an: Über rund 100 Seiten hinweg steht in der Kopfzeile links statt „Kirchheim unter Teck“ und der Zahl „43“ versehentlich „Bad Mergentheim“ und „42“.

Die Auflage liegt bei 400 Exemplaren. Die Gesamtkosten von 20 000 Euro teilen sich das Landesamt für Denkmalpflege und die Stadt Kirchheim zu gleichen Teilen. Zusätzlich hat noch der Kirchheimer Verschönerungsverein einen finanziellen Beitrag geleistet.

Zu kaufen ist der Archäologische Stadtkataster ab Freitag, 17. März, im Kirchheimer Stadtarchiv – zum Preis von 40 Euro.

Die offizielle Vorstellung beginnt am Donnerstag, 16. März, um 18 Uhr im Alten Gemeindehaus in der Alleenstraße 116 in Kirchheim. Grußworte sprechen Regierungspräsidentin Susanne Bay, Oberbürgermeister Pascal Bader und Claus Wolf, der Präsident des Landesamts für Denkmalpflege. Den Sachvortrag hält Birgit Kulessa. Anmeldungen werden unter der E-Mail-Adresse e.diehl@kirchheim-teck entgegengenommen.     vol