Zum 15-jährigen Bestehen hat die Psychologische Fachberatungsstelle Kompass Kirchheim sich und ihren Beratern ein Geschenk gemacht. Sie hat den Buchautor Dr. Stephan Marks zu einem Vortrag zum Thema „Scham“ eingeladen.
Was ist Scham überhaupt? Sie ist die Wächterin der menschlichen Würde. Mit einem Glas Wasser machte der Referent den Unterschied zwischen dem gesunden Maß und zu viel Scham deutlich. Bei der traumatischen Scham läuft das Glas über. Wohin mit zu viel Scham? Man projiziere sie auf eine Minderheit, ob es nun in Indien die Parias, bei den Nazis die Juden oder in Peru die Bewohner des Hochlandes sind. Wenn nur der Herr Müller nicht wäre, wäre das Team ja so toll - wenn dann der Herr Müller gekündigt hat, ist der Nächste dran.
Die Scham entwickelt sich ab etwa der Mitte des zweiten Lebensjahres, entscheidend ist der Augenkontakt. Auch schon der erste, wenn ein Vater seine neugeborene Tochter enttäuscht ansieht, weil sie „nur“ ein Mädchen ist. Scham wird oft über Generationen hinweg weitergereicht, etwa bei einem Volk mit der „falschen“ Hautfarbe. Scham ist laut Stephan Marks universell, jeder Mensch kennt sie. Aber sie ist zugleich individuell, je nach Geschlecht und Kultur. So fühlt sich bei den Tuareg der Mann nackt, wenn er nicht verhüllt ist.
Scham macht einsam
„Wir müssen zwischen Scham und Beschämung unterscheiden“, betonte Stephan Marks. Scham ist die natürliche Reaktion eines Menschen, er reagiert vielleicht auf einen Fehler, den er gemacht hat. Beschämung hingegen bedeutet, einen anderen Menschen zu verhöhnen, zu verachten, auszugrenzen. Scham macht einsam und isoliert, der Mensch igelt sich ein und stellt die Stacheln. Sie macht unfähig, bringt höhere Funktionen der Gehirnrinde zum Entgleisen: Plötzlich weiß der gehänselte Schüler die Formel, bei der er sich vorher so sicher war, nicht mehr.
Um die eigene Scham abzuwehren, gibt es viele Abwehrmechanismen: Man beschämt andere oder versucht, sich durch Unverständlichkeit unangreifbar zu machen. Man zeigt keine Güte, sondern äußert sich zynisch, oder man zeigt eine arrogante, coole Fassade. Man verhält sich brav, angepasst und fleißig. Man versteckt seine Fehler durch Lügen, Ausreden und Schuldzuweisungen an andere. Oder Schamgefühle werden durch Suchtmittel betäubt. In der Gruppe wird gemobbt: „Beschäme und herrsche!“
Die Folge einer Beschämung, sagte Stephan Marks, könne protziges Verhalten sein: „Hochmut kommt nach dem Fall.“ Beim Führen bestehe die Kunst darin, Rückmeldung zu geben, ohne zu beschämen, also ohne Botschaften mit „du bist“ oder „Sie sind“, die das Verhalten mit der Person verkleben. Im Positiven gebe die Scham einen starken Entwicklungsimpuls: Ein Schüler ist durchgefallen, strengt sich an und schafft die Prüfung dann beim zweiten Anlauf.
Mensch will anerkannt werden
Ein Mensch braucht gleichermaßen Anerkennung, Schutz, Zugehörigkeit und Integrität. Das heißt: Er will für sein Tun nicht verachtet, sondern von anderen anerkannt werden, und er will nicht, dass jemand verletzend in seine Privatsphäre eindringt - ein uraltes Herrschaftsmittel. Er will zu einer Gruppe dazugehören, also nicht ausgegrenzt werden, und er will nicht gegen seine inneren Werte handeln müssen. Muss er etwa aus Zeitdruck in der Pflege alte Menschen so behandeln, wie er es eigentlich nicht will, schämt er sich dafür.
Neben dem persönlichen Verhalten, betonte Stephan Marks, gebe es auch Strukturen, die Anerkennung verweigern. Das ist der Fall, wenn der hervorragende syrische Zahnarzt nicht arbeiten kann, nur weil ihm das polizeiliche Führungszeugnis fehlt. Es gebe auch Strukturen, die das Schutzbedürfnis verletzten, wie die Intensivstation oder das Beratungsbüro ohne Tür.