Kirchheim
„Impfen hat in Europa eine Million Todesfälle verhindert“

Vortrag Der scheidende Stiko-Vorsitzende Thomas Mertens sprach beim 9. Heilberufe-Dialog der Kreissparkasse Esslingen über Impfmythen und die Covid-Pandemie. Von Thomas Zapp

Er ist Arzt, Virologe und war das Gesicht der „Stiko“ während der Corona-Krise. Zwei Jahre lang ist Professor Thomas Mertens in den Medien präsent gewesen, vor wenigen Tagen hat er nun den Vorsitz der Ständigen Impfkommission – kurz: Stiko – abgegeben. „Ich gehe nicht mit Unmut“, sagt er im Pressegespräch nach seinem Vortrag in der Kreissparkasse Esslingen, vielmehr sei der Rücktritt schon vor einem Jahr beschlossen worden. Damit tritt er Berichten im Deutschen Ärzteblatt entgegen, die ihm einen Konflikt mit den Kommissionsmitgliedern unterstellt haben. Vielmehr sei es an der Zeit, den Ruhestand zu genießen, sagt der 73-Jährige. Langweilig dürfte es ihm mit sechs Enkelkindern nicht werden. „Ich verfalle nicht in Trauer“, kommentiert er schmunzelnd.

Dennoch war die Zeit der Corona-Krise herausfordernd, wie er in seinem Vortrag noch einmal rekapituliert. Und auch die persönlichen Anfeindungen per Mail oder sogar beim Spazierengehen gehörten dazu. Dass häufig zu viele Meinungen kursierten, mal zu wenig, mal zu viel kommuniziert wurde, gehöre dazu. „Es sind ja auch Journalisten, die keine Geduld haben“, spielt er den Ball zurück. Vor allem aber hätte „mehr Richtiges“ kommuniziert werden müssen. So sei es falsch gewesen, dass manche Verantwortliche behauptet hatten, es gäbe keine Impfrisiken. „Jegliches menschliches Handeln birgt Risiken auf unerwünschte Wirkungen“, sagt er. 

Doch was richtig und was falsch ist, genau daran haben sich die Geister während der Pandemie geschieden. Emotionen haben eine Rolle gespielt, etwa als die Stiko zögerte, eine Booster-Empfehlung für Kinder auszusprechen. In Israel ging das viel schneller – allerdings sei dort auch die Erfassung der Gesundheitsdaten extrem effizient und komplett digital und das Land viel kleiner. Nachdem die israelischen Daten ausgewertet waren, gaben die USA zuerst die Empfehlung, einen Tag später die Stiko. Doch das war im Meinungssturm untergegangen.

Mertens hat viele Zahlen und Statistiken mitgebracht, etwa diejenige über das Misstrauen vieler Menschen gegenüber der Wissenschaft, die als Handlanger der Politik empfunden wird. „54 der Prozent der Ungeimpften glauben, dass die Corona-Maßnahmen vor allem dazu dienten, bürgerliche Freiheiten einzuschränken“, zitiert er eine Umfrage. Die Skepsis gegenüber der Impfung, gerade in Deutschland, drückt sich auch in anderen Zahlen aus: „Weltweit gab es zu einem Zeitpunkt 2600 dokumentierte Fälle von Post-Vac-Symptomen“, fasst der Virologe eine Studie zusammen und fügt unter allgemeinem Gelächter der Zuhörerinnen und Zuhörer hinzu: „Davon 53 Prozent in Deutschland.“ Hinzu komme, dass es für das „Post-Vac-Syndrom keine medizinische Falldefinition gebe. Das medizinisch klar zu diagnostizieren, ist also noch nicht möglich. 

Mertens’ Vortrag ist neben einem Plädoyer für das Impfen auch eine Warnung vor ebendiesen Mythen, die er an Zahlen belegen kann.
 

Ich habe da meine Zweifel.
Professor Thomas Mertens zur Frage, ob die Kommunikation bei der „nächsten“ Pandemie besser läuft

„Menschliche Dummheit“ sei es, wenn eigentlich verdrängte Krankheiten wie Kinderlähmung wiederkommen, weil in Nigeria die Menschen plötzlich Angst haben, durch die Impfung unfruchtbar zu werden. Mertens weist auf ein Paradoxon hin: Der Erfolg einer Impfung kann gleichzeitig ihr Handicap sein: Warum gegen Diphterie impfen, wenn es die Krankheit eigentlich nicht mehr gibt, zumindest in der Wahrnehmung nicht. „Das ist ein Fehler. Diphtherie ist nicht ausgestorben“, sagt der Arzt. In der Corona-Pandemie sei der entscheidende Faktor gewesen, ob sich Menschen impfen lassen oder nicht, was ihre Ärzte und Apotheker gesagt hätten.

Mertens bringt Zahlen mit, um zu zeigen, was Evidenz bedeutet, zum Beispiel zur Folge von Covid-Impfungen in Deutschland: Ein Verdacht auf einen Todesfall nach Impfung wurde in 3023 Fällen in unterschiedlichem Abstand zur Covid-19-Impfung gemeldet, 120 Fälle wurden als „konsistent mit einem wahrscheinlichen oder möglichen ursächlichen Zusammenhang“ gesehen: Ergebnis: ein Anteil an den damals mehr als 180 Millionen Impfungen, der prozentual vier Nullstellen nach dem Komma aufweist. Durch die Impfung seien in Europa rund eine Million Todesfälle verhindert worden – „ganz zu schweigen von schweren Erkrankungen.“

Doch die Mischung zwischen mangelhafter Kommunikation, Mythen und Wissenschaftsskepsis und medialer Verunsicherung hatte Folgen: Die Lücke zwischen Evidenz und gefühltem Wissen konnte die Wissenschaft nicht immer schließen. Ob das bei der „nächs­ten Epidemie“ besser läuft? „Ich habe meine Zweifel“, sagt Thomas Mertens.