Kirchheim
In der SPD herrscht Zuversicht: „Nabelschau nützt niemandem“

Koalition   Die Ampel kommt, der Verhandlungsmarathon startet. Was erhoffen sich engagierte SPD-Vertreter im Ländle davon? Ein Gespräch mit Dr. Martin Sökler aus Nabern, Fraktionsvorsitzender in Tübingen. Von Irene Strifler

Der Wahlerfolg der SPD lässt deren Anhänger frohlocken. Aber: Hat die SPD noch das Format einer Volkspartei? Und vor allem: Ist Olaf Scholz der Mensch, der an die SPD-Größen Brandt und Schmidt aus den 80er Jahren anknüpfen kann?

Martin Sökler: Die SPD hat bei dieser Wahl ihren Status als Volkspartei behauptet. Sie spricht die ganze Breite der Gesellschaft an. Olaf Scholz hat mit dem Begriff
 

 

„Die Politik darf auf
niemanden herabschauen
und muss Lebensleistungen würdigen.

 

Respekt in diesem Wahlkampf einen ganz wichtigen Punkt herausgearbeitet. Die Politik darf auf niemanden herabschauen und muss Lebensleistungen würdigen. Olaf Scholz hat sicher nicht die Ausstrahlung von Willy Brandt, aber er kann Politik. Das hat er als Hamburger Bürgermeister und Finanzminister bewiesen.

Die Wählerschaft wollte angeblich einen Neubeginn. Jetzt stehen wir tatsächlich vor einer völlig neuen Koalition, SPD-geführt, nach einer gefühlten Ewigkeit der CDU-Regierung: Gibt es in Deutschland eine komplett neue Politik?

Sökler: Ein so großes Land wie Deutschland ist kein wendiges Schnellboot, sondern eher mit einem Tanker zu vergleichen. Es braucht oft lange, bis ein neuer Kurs eingeschlagen ist. Wobei eines nach meiner Einschätzung allen drei beteiligten Parteien klar ist: Beim Klimaschutz haben wir nicht viel Zeit, sondern müssen handeln.

Die Sondierungsgespräche sorgten bereits für eine gewisse Ernüchterung – Grüne und FDP, die Kleinen in der Runde, schienen die Richtung vorzugeben. Muss sich die SPD jetzt schon unter Wert verkaufen?

Dass FDP und Grüne in den ersten Wochen nach der Wahl mehr im Fokus der Öffentlichkeit standen, kann die SPD verkraften. Insbesondere die FDP musste ihre Mitglieder und Wähler erst an eine Ampel-Beteiligung heranführen. Im vorgelegten Sondierungspapier findet sich nach meiner Einschätzung ein Geben und Nehmen aller drei Partner. So sollte es auch sein, wenn man länger zusammen erfolgreich sein will. Eines darf man nicht vergessen: Am Ende hat der Kanzler eine sehr starke Stellung in der deutschen Politik. Und vielleicht sind die großen Krisen der nächsten vier Jahre heute noch gar nicht absehbar und können sich im Koalitionsvertrag gar nicht wiederfinden. So war es vor acht Jahren mit der Flüchtlingskrise und vor vier Jahren mit Corona.

Steuererhöhungen scheinen vom Tisch, das Tempolimit auch. – Inwiefern hoffen Sie noch auf die sozialdemokratische Handschrift in der neuen Regierung?

Im Sondierungspapier steckt schon eine ganze Menge SPD drin: Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro binnen des ersten Jahres, der Bau von 400 000 neuen Wohnungen pro Jahr und davon ein Viertel geförderter Mietwohnungsbau, die Kindergrundsicherung und die Weiterentwicklung von Harz IV zum Bürgergeld, modernes Staatsangehörigkeitsrecht und vieles mehr. Und manchmal tut der SPD-Position ein bisschen Einfluss von aussen auch ganz gut: so bei der Rente, wo neben der Niveausicherung bei 48 Prozent auch richtigerweise der Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der gesetzlichen Rente wie in Norwegen beschlossen wurde.

Wer Scholz gewählt hat, will nicht unbedingt Esken, Walter-Borjans oder Kühnert. Wie uneinheitlich ist die SPD und schwer wird es, sich parteiintern auf eine Linie zu einigen?

Auch Saskia Esken und Kevin Kühnert wissen, wem der Wahlsieg zu verdanken ist, und dass Scholz-Wähler keine linke Revolution wünschen. Die SPD hat zudem in den letzten Jahren gelernt, dass Dauerstreit und Nabelschau niemandem nützen und niemanden überzeugen. Möglicherweise wird Saskia Esken auch in die Regierung eingebunden sein. Kevin Kühnert traue ich zu, die richtige Balance zwischen linker Positionierung und dem notwendigen Kompromiss in Regierung und Gesellschaft zu finden.

Im Gesundheitswesen streben die Vorstellungen der Koalitionspartner dramatisch auseinander, die SPD will die Bürgerversicherung, die FDP das jetzige System erhalten. Kennen Sie ein Patentrezept? Wo brennt‘s am meisten?

Bei der Krankenversicherung sind die Positionen von SPD und FDP tatsächlich nicht vereinbar. Privat und gesetzlich: das wird einfach so bleiben. Immerhin finden sich die Weiterentwicklung der Krankenhausfinanzierung mit Fallpauschalen – das ist beispielsweise für Kinderkliniken ein wichtiges Thema  und die bessere Verzahnung von ambulant und stationär im Sondierungspapier. Wichtig ist eine Pflegeoffensive. Was nützen Krankenhausbetten, wenn es zu wenige Menschen gibt, die in dem Bereich arbeiten wollen? Zu befürchten ist, dass ein lange nicht mehr gehörtes Wort auf die Agenda in der Gesundheitspolitik zurückkehrt: das Kostendämpfungsprogramm.

Wenn’s eine Ampel gibt, rückt die Legalisierung von Cannabis näher. Wie stehen Sie als Arzt dazu?

Ich persönlich bin eher skeptisch, was eine Cannabisfreigabe angeht. Insbesondere für junge Leute ist Cannabis alles andere als harmlos. Aber es gibt auch Argumente dafür: Wegfall der Kriminalisierung, freiwerdende Kapazitäten bei der Polizei und in der Justiz für wichtigere Dinge, Sicherstellung der Qualität der Cannabisprodukte bei kontrollierter Abgabe, Steuereinnahmen. Wenn es so kommen soll – eine Mehrheit in Gesellschaft und Politik zeichnet sich ja ab – würde ich dazu raten, das Kind nicht mit dem Bade auszuschütten und erst mal nur Modellversuche zuzulassen.

Martin Sökler beruflich - politisch - privat

Im Jahr 1965 wurde Martin Sökler in Esslingen geboren. Er wuchs in Nabern auf und besuchte das Ludwig-Uhland-Gymnasium, wo er 1984 Abitur machte.
In Tübingen studierte er Medizin von 1986 bis 1992 und absolvierte sein Praktisches Jahr in Tübingen und Madrid.
Heute ist der Facharzt für Innere Medizin mit den Schwerpunkten Onkologie und Hämatologie als Leitender Arzt im Spital in Thun in der Schweiz tätig. Zuvor war er bis 2020 Oberarzt am Universitätsklinikum Tübingen.
Er ist verheiratet und Vater von vier KIndern.
Der SPD fühlte sich Martin Sökler schon von jungen Jahren an verbunden. Seit dem jahr 1983 ist er auch Mitglied in der Partei. Später war er Stipendiat der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung. Im jahr 2009 wurde er in den Tübinger Gemeinderat gewählt. Dort ist er mittlerweile Vorsitzender seiner Fraktion. tb