Kirchheim

„Johnson steht für Machthunger“

Brexit Der EU-Ausstieg Englands rückt näher. Nicht nur in Wirtschaftskreisen wächst die Verunsicherung beidseits des Ärmelkanals. Ein Kirchheimer, der in London lebt, beschreibt die Lage aus seiner Sicht. Von Irene Strifler

Boris Johnson, der strohblonde Engländer, sitzt jetzt auf dem höchsten Posten seiner Nation. Er will das Land in den Brexit führen, es könnte ein No-Deal-Brexit Ende Oktober werden. Das versetzt nicht nur schwäbische Firmen, die mit England Handel treiben oder dort produzieren, in Alarmbereitschaft. Auch Menschen aus der Region Teck, die sich in England aus beruflichen oder privaten Gründen niedergelassen haben, sehen einer ungewissen Zukunft entgegen. Einer von ihnen ist der Kirchheimer Hansjörg Schmidt,

Die Abgeordneten haben Boris Johnson ins Amt des Premierministers verholfen, er und seine Getreuen sind im Feiermodus. Wie ist die Stimmung in England, wie im Großraum London?

Hansjörg Schmidt: Johnson wurde von den Mitgliedern der Tory-Partei gewählt, das sind 0,1 Prozent der Bevölkerung - eigentlich ein Skandal. Die Stimmung in London ist ziemlich miserabel, da London „Remain“ gewählt hat, also in der EU bleiben möchte, und generell natürlich als Großstadt eher linksliberal orientiert ist. Johnson repräsentiert hier nicht einmal das Establishment, er steht einfach nur für ausgeprägten Machthunger. In England ist die Stimmung daher sehr gespalten zwischen den sogenannten Brexiters und den Remainers. Bei den Wählern der Tories ist Boris Johnson tatsächlich sehr populär, da er ihnen den garantierten Brexit am 31. Oktober versprochen hat.

Boris Johnson wird in der deutschen Presse gelegentlich mit Donald Trump verglichen. - Schmerzt das im Mutterland der Demokratie?

Schmidt: Ja, das schmerzt schon. Obwohl natürlich Johnson und seine Kollegen darauf hinweisen, dass die Volksabstimmung zum Brexit der „biggest democratic exercise“ in der Geschichte des Landes war - die Wahlbeteiligung war größer als bei irgendwelchen anderen Wahlen. Und daher sehen sie sich als Verfechter der Demokratie. Sie behaupten, dass sich das Unterhaus in London, das sich ja gegen den Vorschlag von Theresa May zum Brexit gestemmt hat, dem demokratischen Willen der Bevölkerung - und damit meinen sie 52 Prozent der Bevölkerung - entgegenstelle.

Auch Theresa May ist auf dem Kontinent nicht unbedingt eine Sympathieträgerin, dennoch weint man ihr fast nach. In England auch?

Nein, keineswegs.

Brexit - koste es, was es wolle. Überzeugten Europäern wird angst und bang bei diesem Anspruch. Glaubt der Inselstaat, in der globalisierten Welt als Einzelkämpfer zu bestehen?

Leider geht es beim Brexit nicht um rationale Argumente, sondern um Emotionen und Träume. Viele der Brexiter haben das Bild vom mächtigen England noch im Kopf, das die Lüfte und Wellen beherrscht und der Welt Manieren beibringt. Von ihnen wird Boris Johnson als eine Art neuer Churchill gesehen, womöglich inklusive einem „War Cabinet“, einer geheimen Kommandozentrale, für den anstehenden Streit mit der EU. Die englische Wirtschaft warnt schon seit Langem vor der Gefahr des „no deal Brexit“, aber das wird von vielen entweder einfach nicht wahrgenommen oder aber als „Project fear“ abgetan, also als pure Angstmacherei.

Geht England davon aus, dass es beim Brexit Ende Oktober bleibt?

Leider ja.

Was bedeutet das für die Deutschen, die derzeit in England leben, arbeiten und studieren?

Hoffentlich nicht viel. Wir müssen uns hier alle für den sogenannten „Settled Status“ bewerben, das ist aber nur eine Formalität. Die Regierung inklusive Boris Johnson hat bisher immer sehr klar gesagt, dass alle Europäer weiterhin mit gleichen Rechten im UK, also im Vereinigten Königreich, leben können. Wir werden natürlich länger in den Warteschlangen und Flughäfen stehen müssen - aber als eingebürgerte Engländer können wir das Schlangestehen ja schon sehr gut. Was das Ganze für mich persönlich bedeutet? Das kommt auf die nächsten paar Jahre an. Wir sind jetzt im zehnten Jahr der sogenannten „Austerity“. Dieses Sparprogramm der konservative Regierung hat viel gekürzt, vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen. Wenn es wirtschaftlich weiter bergab geht, dann kann es natürlich schon sein, dass wir als Familie eventuell das Land verlassen. Oder vielleicht ins unabhängige Schottland umziehen.

Manche sagen, dass ein Brexit ohne Deal so was von undenkbar ist, dass jetzt die Chancen wieder steigen, dass es gar nicht zum Brexit kommt. Scheint das denkbar?

Im Moment nicht. Einzige Chance dafür wären Neuwahlen vor dem 31. Oktober mit einer klaren Alternative nach dem Prinzip Tories gleich Brexit, Labour gleich Remain. Das scheint aber mehr als unwahrscheinlich.

Von Kirchheim nach London

Hansjörg Schmidt stammt aus Kirchheim und hat am Ludwig-Uhland-Gymnasium im Jahr 1987 sein Abitur abgelegt. Eine Ausbildung zum Verlagskaufmann bei Klett in Stuttgart schloss sich an, später der Zivildienst beim DRK in Stuttgart. Theaterkontakt hatte Hansjörg Schmidt erstmals durch einen Kassenjob am Theaterhaus, damals noch in Wangen. Da zu dieser Zeit noch nicht so klar war, wohin die berufliche Reise geht, studierte er zunächst Germanistik und Anglistik in Hamburg. Nach London kam Schmidt durch den Erasmus-Austausch. Er studierte am Goldsmiths College Drama and Theatre Arts und machte seinen Abschluss im Sommer 1996. Danach war er zehn Jahre freiberuflich tätig als Lighting Designer. Seit 2009 ist er Programme­ Director Lighting Design am Rose Bruford College in London. Er lebt mit seiner Frau, einer Engländerin, und zwei Kindern in Whitstable an der Nordküste von Kent. - Also im Ernstfall so nah wie möglich am Europäischen Festland.tb